Kloppen als Bühnenkunst

Sportplatz Kolumne

Ist das Theater oder Sport? Wie viel ist abgesprochen? Das fragt sich jeder, der die "lucha libre" - das mexikanische Wrestling - zum ersten Mal sieht. Dabei ist die Frage unwichtig und schnell beantwortet: Die lokalen Kämpfer der ersten Runden sind so schlecht, dass man das absichtliche Hinfallen sofort sieht. Die berühmten luchadores dagegen agieren derart akrobatisch, dass jeder Griff abgesprochen sein muss, sonst wären die schon lange tot.

Sonntagnachmittag um fünf Uhr in der Arena Coliseo, der kleineren der beiden Arenen in Mexiko Stadt. Um den Ring sitzen alte Ehepaare, Familien mit Kindern, Jugendliche. Die Fanclubs lärmen auf den Balkonen, rütteln an engmaschigen Gittern, die verhindern, dass Gegenstände in den Ring geworfen werden. Am lautesten sind die Anhänger der rudos. Egal ob ein, zwei oder drei Kämpfer gegeneinander antreten - immer sind es die técnicos gegen die rudos. Die Guten gegen die Bösen, oder genauer gesagt: diejenigen, die sich wenigstens ein bisschen an die Regeln halten, gegen die, die machen was sie wollen. Als Fan entscheidet man sich für ein Lager und bleibt dabei.

Die wichtigsten Utensilien der nationalen Leidenschaft "lucha libre" sind die Masken. Sie verbergen die Identität der Kämpfer, schaffen Mythen und ihre Motive sind zu Kunstfiguren geworden, in denen traditionelle mexikanische Ikonografie und Popkultur verschmelzen. Kinder, die ihre Superhelden kennen, tragen beim Zuschauen deren Masken und stellen zuhause die Kämpfe mit Plastikfiguren nach. Jeder luchador hat seine Geschichte, sein Kostüm, seinen Ruf: Doctor Wagner, Blue Demon, Ultimo Guerrero oder der legendäre El Santo.

Einmarsch der Gladiatoren: Jeder Kämpfer bekommt zwei Bikinigirls zur Seite, eine Erkennungsmusik und eine Portion Nebel. Bejubelt werden alle, grenzenlose Sympathie erntet ein luchador aus dem Viertel. Während der Vorrunden grüßt man Bekannte und kauft Bier. Das Können steigt von Runde zu Runde, die Stimmung auch. Die Zuschauer feuern die eigenen luchadores an, schreien nach Blut und beleidigen die Gegner. Jetzt - hält der Held inne, dreht sich langsam um, fixiert den lautesten Rufer aus dem Publikum und erwidert die Provokation. Mit der gewonnenen Aggressivität wendet er sich dann wieder dem Gegner zu und vermöbelt ihn nach Strich und Faden. Das Publikum johlt.

Die verbalen Attacken sind mindestens so wichtig wie die körperlichen, und sie sind ähnlich stereotyp. Dramatische Gesten von Provokation, Beleidigung und Triumph, immer schwebend zwischen Pathos und Ironie. Im Kampf hat jeder seiner Spezialität: Einer geht aus dem Handstand auf die anderen los, einer springt vom Ringpfosten dem Gegner auf die Kehle - und Los 3 Payasos, drei fiese Clowns mit Bierbäuchen, nerven ihre Gegner mit kindischen Neckereien.

Abendvorstellung in Puebla. Die Kämpfe sind härter, die Stimmung aggressiver, das Geschehen läuft aus dem Ruder. In der dritten Runde treten zwei Frauen gegeneinander an. Der Kampf ist brutal. Der Ringrichter versucht vergeblich einzugreifen, ein Trainer mischt sich ein und hält die Gegnerin an den Füßen fest. Lady Apache siegt, die Japanerin Hiroka bleibt reglos liegen und wird auf einer Bahre hinausgetragen. Die Arena kocht, die Stimmung ist auf dem Höhepunkt.

Fast schöner sind die weniger wilden Partien, bei denen der Ringrichter noch etwas zu sagen hat und scheinbar klare Regeln gelten. Dann nämlich kommen Verstöße umso überraschender: Wenn drei über einen herfallen, wenn einer von hinten attackiert wird, wenn einer den Kopf voran aus dem Ring fliegt, der Gegner hinterher springt und die Prügelei im Zuschauerraum weiter geht. Dort sitzt plötzlich einer einem Zuschauer auf den Knien, während er vom anderen ordentlich abgewatscht wird. Das Publikum brüllt vor Lachen.

Wenn die Sieger den Ring verlassen, werden sie lautstark gefeiert. Sie bahnen sich ihren Weg durchs Publikum, schreiben Autogramme in rosa Mädchenhefte, schütteln alten Männern die Hand - und geben mit ernster Miene erste Radiointerviews, in denen sie ihre Taktik erklären. Abgesprochen oder nicht abgesprochen - wen kümmert´s. Womöglich könnte das die Zukunft des Radsports sein.


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