Am Dienstagvormittag seilt sich Sam von einer Autobahnbrücke auf der A94 kurz vor München ab. In fünf Metern Höhe schwebt sie über der Fahrbahn, bis der Berufsverkehr zum Erliegen kommt. Jeden Tag donnern hier sonst um diese Zeit die Autos Richtung Münchner Innenstadt, auf einmal steht alles still. Die bayrische Polizei beendet die Abseilaktion rasch, Sam wird mitgenommen. Doch dann will die Polizei sie für sechs Tage hinter Gitter stecken, präventiv, um sie an weiteren Protestaktionen zu hindern.
Sam ist Klimaaktivistin, Mitte zwanzig, mit lila gefärbten Haaren. Ihre Augen leuchten, als sie drei Tage später von der Abseilaktion erzählt. Angst habe sie nicht gehabt, sagt sie. „Ich gehe ja auch zu Hause oft klettern.“ Außerdem hätten ihre Eindrücke auf der Autobahn sie von der Notwendigkeit ihrer Aktion überzeugt. „Es war heftig, da oben zu hängen und zu sehen, dass in jedem Auto nur eine Person saß – das ist krass ineffizient.“
Die Autobahnblockade ist eine Aktion der Gruppe „Aktion Autofrei“. Sie will damit gegen die Internationale Automobilausstellung (IAA Mobility) zwischen 6. und 12. September in München protestieren. Überall blockieren an diesem Morgen rund um München Aktivist*innen Autobahnen, lassen Transparente herab und überkleben Verkehrsschilder, um darauf aufmerksam zu machen, dass – aus ihrer Sicht – die Automobilkonzerne „für ihre Profite die Klimakrise befeuern“. Selbst wenn auf der IAA dieses Mal an jeder Ecke von klimafreundlicher Technologie und Elektroautos die Rede war, sei dies doch nur „Greenwashing“, jetzt würden bloß die „Ausbeutung der Beschäftigten und die Zerstörung unserer Zukunft als ‚sauber, grün und zukunftsfähig‘ zelebriert“. „Ich glaube, die Blockade packt das Problem an der Wurzel“, sagt Sam.
CSU-Mann Blume frohlockt
Sam wird nach kurzer Zeit wie erwartet von der Polizei festgenommen. Doch anschließend wird entschieden, sie bis zum Ende der IAA in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Stadelheim zu stecken. „Ich saß in Isolationshaft, konnte mit niemandem reden“, erzählt Sam. Neun AktivistInnen, darunter auch Sam, sollen bis Ende der IAA in Präventivhaft bleiben.
Für Sam kommt das überraschend: „Eigentlich dachte ich, ich komme frei, nachdem ich bei der Polizei meine Personalien angegeben habe. Aber dem war nicht so.“ Die Grundlage für die Präventivhaft ist Bayerns Polizeiaufgabengesetz, das zuletzt 2018 und dann noch einmal am 1. August 2021 neu gefasst wurde. Dieses macht es möglich, dass die Polizei Aktivist*innen oder Demonstrierende nicht erst bei einer konkreten, sondern schon bei einer drohenden Gefahr in Gewahrsam nehmen kann. Die Begründung bei Sam und den anderen: Ihr habt bereits einmal protestiert, also werdet ihr es wieder tun. Demgemäß beantragt die Polizei beim Amtsgericht Erding, die Aktivisten wegen „gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr“ so lange wegzusperren, bis die Automesse zu Ende ist. Bis Sonntag hätte Sam also in der JVA sitzen sollen. Am Ende kippt das Landgericht Landshut die Präventivhaft schon zwei Tage früher, allerdings auch nur mit der Begründung, eine Wiederholungsgefahr bestünde wohl nicht.
Die Präventivhaft ist nur eine aus einem ganzen Bündel von polizeilichen Repressionsmaßnahmen, die die Klimaaktivist*innen in der Woche der IAA erfahren. „Wir erleben das in einem größeren Format als sonst bei Protestaktionen“, sagt Lou Winters vom Bündnis „Sand im Getriebe“. Was sie meint: Personenkontrollen rund um die Theresienweise, wo ein Klimacamp stattfindet. Aktivistinnen, die ohne Vorwarnung in Gewahrsam genommen und mehrere Stunden verhört werden. Generell ein drastisch erhöhtes Polizeiaufkommen rund um die Protestaktionen. Obendrein das Vorgehen der Polizei bei den Demonstrationen – vor allem am Freitag. In der Münchner Karlsstraße setzen die Beamten Pfefferspray und Schlagstöcke gegen Aktivist*innen ein.
Eine, die das besonders zu spüren bekommen hat, ist Lisa. „Ich habe Schläge in meinen Rücken bekommen, mit Schlagstöcken. Ich habe immer noch blaue Flecken“, klagt die Studentin. Außerdem habe die Haut gebrannt vom Pfefferspray.
Die Aktivist*innen werden nicht behandelt, als würden sie ihren Protest gegen die – aus ihrer Sicht – fortgesetzte Klimazerstörung durch die Autoindustrie äußern, sondern wie Ruhestörer oder gar Staatsfeinde. Lisa zum Beispiel wurde im Vorfeld einer Demonstration von der Polizei in Gewahrsam genommen und in eine Gefangenensammelstelle gebracht. Der Grund: Ein Sticker gegen die IAA in ihrem Rucksack, den die Polizei zuvor durchsucht hatte. 90 Minuten war sie dort – und bekam dann sogar eine „Gefährderansprache“. „Das ist so geschrieben, als wären wir alle Schwerverbrecher und würden Menschen angreifen, das ist unglaublich“, berichtet Lisa. In der Ansprache wird ihr mit Freiheitsentzug, zivilrechtlichen Konsequenzen und Vorstrafen gedroht, sollte sie ihr „gefährdendes Verhalten nicht beenden.“ Warum trifft es gerade sie so hart?
Die junge Münchnerin, die sich auch bei der Gruppe Extinction Rebellion engagiert, ist der Polizei schon bekannt. Auch deshalb, vermutet sie, habe man es bei der IAA besonders auf sie abgesehen: „Einmal haben die Polizisten auch während einer Aktion zu mir gesagt: Lisa, es reicht jetzt.“ Weil sie weitere Kontrollen fürchtet, bewegt sich die junge Aktivistin derzeit in großen Bögen um die Münchner Innenstadt oder hängt sich an Familien, um nicht erkannt zu werden. Sie habe Angst, in der Stadt herumzulaufen, sagt sie.
Die Anwältin Antonia Giamattei, eine Expertin für Versammlungsrecht, arbeitete während der IAA beim anwaltlichen Notdienst. Der Einsatz der Polizei sei aus rechtlicher Sicht unverhältnismäßig gewesen, sagt sie. „Unser Eindruck ist – hier wird mit allen Mitteln versucht, Gegenprotest zu unterbinden.“ Die unzähligen Gewahrsamsanträge der Polizei seien nicht mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit vereinbar. Aber selbst wenn man das Polizeiaufgabengesetz so auslege, so Giamattei, müsse das zuerst ein Richter absegnen.
Wozu der ganze Aufwand? Das erste, das einem die Aktivist*innen auf dem Klimacamp auf der Münchner Theresienwiese erzählen, ist, dass sie friedlich seien. Das gehöre zu ihrem Aktionskonsens. Radikal? Ja. Gewaltsam? Nein. Die regierende CSU sieht das allerdings anders. „Brückenkletterer werden bis Ende der IAA eingesperrt – so läuft’s hier in Bayern“, freut sich CSU-Generalsekretär Markus Blume.
Blume ist einer derjenigen, die sich vor drei Jahren für das neue Polizeiaufgabengesetz stark gemacht hatten. Genau wie Ministerpräsident Markus Söder, der 2018 trotz massiver Proteste gegen das Gesetz noch beteuerte, die Verschärfungen des Polizeigesetzes seien notwendig: im Kampf gegen den Terrorismus.
Kommentare 10
Da gibt es nur eines: Viel mehr Leute müssen derartige Aktionen machen, damit die verbrecherische Junta in München mit ihren Schlägertruppen nicht mehr hinterherkommt!
"... dank neuem Polizeigesetz ..."
Kritik an den Verfassungsgerichten
Nun das fragliche Gesetz ist nicht neu. Das Polizeiaufgabengesetz (PAG) ist in den letzten Jahren mehrmals geändert, verschärft, entschärft worden.
Schon Mitte Mai 2018 schwoll der Protest dagegen auf 30 000 Demo-Teilnehmer in München an.
https://www.merkur.de/politik/polizeiaufgabengesetz-emotionalisiert-polizist-droht-demo-organisator-pruegel-an-zr-9870497.html
Im Anschluss wurden Verfassungsklagen eingereicht. Sowohl beim BVerfG als auch beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof . Soweit ersichtlich liegen darüber immer noch keine - abschließenden - Gerichtsentscheidungen vor.
Zwischenzeitlich wurde das BayPAG erneut geändert; zuletzt wohl in diesem Jahr. Die anhängigen Verfassungsbeschwerden dürften insoweit ergänzt worden sein.
Ist es nicht hohe Zeit, dass beide Gerichte, je nach Zuständigkeit, endlich zu einer Entscheidung kommen?
Man sieht ja: Das CSU-geführte Innenministerium und die ihm untergeordneten Behörden sind nicht zimperlich beim Wegsperren der Menschen. Es bedurfte der örtlichen Fachgerichte, um diese aus dem Unterbindungsgewahrsam frei zu bekommen.
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https://netzpolitik.org/2019/bayerisches-polizeigesetz-19-personen-wochenlang-in-praeventivgewahrsam/
Vertiefend
https://verfassungsblog.de/die-drohende-gefahr-bleibt-problematisch/
Da hilft nur eines: Aus den Verkehr ziehen oder möchten Sie mit Herzinfarkt im Sanka liegen und im Stau festhängen? Richtig lustig so der Tag heute. Das ist und bleibt strafbewehrter gefährlicher Eingriff in den öffentlichen Straßenverkehr.
>>Viel mehr Leute müssen derartige Aktionen machen,...<<
Ja.
Aber die Einengung auf die "münchner Junta" halte ich für zu engsichtig.
Wie bei schon bei Covid sind wir auf dem Weg in einen Meinungstotalitarismus (und man muss sagen, wir sind schon halbwegs angekommen) wo abweichende Meinungen nicht mehr gesehen werden dürfen um die Volksseele ja nicht zu verunsichern. Da hilft nur ziviler Ungehorsam, der mit solchen Polizeigesetzen richtig gefährlich geworden ist. Das war er aber vermutlich zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte.
siehe auch die Diskussion hier
@Meine Meinung
Zitat: "Aus den Verkehr ziehen oder möchten Sie mit Herzinfarkt im Sanka liegen und im Stau festhängen?"
Nur der gewöhnliche Pöbel wird heutzutage in diesem unserem Lande bei einem Herzinfarkt mit dem "Sanka" in das Krankenhaus gefahren. Fleißige Bürgerinnen und Bürger aka Leistungsträger werden mit dem Helikopter (deutsch: Hubschrauber) dorthin geflogen.
Daraus muss man die Schlussfolgerung ziehen, dass Sie nicht zu den fleißigen Bürgerinnen und Bürgern in diesem unserem Lande gehören.
Warum zieht man z. B. nicht auch die Straßenverkehrsteilnehmer aus dem Verkehr, die immer auf der Autobahn die Spur wechseln und erst dann blinken? Wo haben diese Straßenverkehrsteilnehmer ihren Führerschein gemacht und Denken gelernt? Wenn man die Spur wechselt, dann sieht das der Fahrer hinter ihm. Dann braucht der Spurwechsler nicht mehr blinken. Erst blinken, dann ausscheren und die Spur wechseln, das ist bzw. wäre die richtige Reihenfolge, damit der Fahrer hinter ihm auf der anderen Spur keine Vollbremsung hinlegen bzw. ausweichen muss oder ihm ggf. hinten drauf fährt.
Und was ist mit den vielen Straßenverkehrsteilnehmern, die z. B. bei Tempo 160 km/h auf eine Autolänge (= 5 Meter) auffahren? Ist das etwa nicht gefährlich? Die Physik sagt, das ist extrem gefährlich. Warum werden diese Straßenverkehrsteilnehmer nicht prophylaktisch aus dem Verkehr gezogen und ein paar Wochen lang eingesperrt?
Warum müssen bei einem unbeschrankten und gefährlichen, weil extrem unübersichtlichen Bahnübergang nacheinander mehrere Autofahrer sterben, bevor dort eine Schranke hingebaut wird?
Oder gehören Sie zu den angeblich "demokratischen" Bürgern, denen es gar nicht um die Sicherheit im Straßenverkehr geht, sondern darum, dass Bürger, die in diesem unserem Lande demonstrieren und protestieren wollen, die Fresse halten? Dann sollten Sie auch so ehrlich sein und das sagen.
Selbstverständlich könnten die Aktivistinnen und Aktivisten auch irgendwo ganz tief im Wald demonstrieren, damit es außer den Borkenkäfern und Wildschweinen niemanden stört. Es gibt auch neoliberal-konservative Journalisten, Politiker und Bürger, die allen Ernstes vorschlagen, dass streikende Arbeiter nach Feierabend zuhause streiken sollten, damit die Streikenden weder den Betriebsablauf noch das Wirtschaftswachstum und auch sonst niemanden behindern oder stören.
Das erinnert mich an die Demonstranten in der ehemaligen DDR, die vor der Wende und dem Fall der innerdeutschen Mauer immer am Montag gegen die herrschende DDR-Nomenklatura demonstriert haben.
Einer dieser Demonstranten, ein Pfarrer, hat vor einigen Jahren einen Strafbefehl bekommen, allerdings von der BRD-Justiz, weil er auf der Straße an einer Sitzblockade teilgenommen hat. Sollte man vielleicht noch hinzufügen, dass es eine Sizblockade gegen Neonazis war und nicht gegen das DDR-Regime.
So ändern sich die Zeiten oder auch nicht. Die Doppelmoral, Heuchelei und Scheinheiligkeit bleiben.
"Oder gehören Sie zu den angeblich "demokratischen" Bürgern, denen es gar nicht um die Sicherheit im Straßenverkehr geht, sondern darum, dass Bürger, die in diesem unserem Lande demonstrieren und protestieren wollen, die Fresse halten? Dann sollten Sie auch so ehrlicrah sein und das sagen."
Hab ich hier irgend jemandem das Demonstrationsrecht verboten? Es geht um den gefährlichen Eingriff in den öffentlichen Straßenverkehr.
Und Dank für die Aufklärung, dass ein Helikopter auf deutsch Hubschrauber genannt werden kann. Irgendwie ein bissel primitiv.
Es lebe die Fassaden-Demokratie! Unsere Enkel werden dereinst Filme wie "1984","Brazil" oder "Gattaca" für Kommödien halten ...
>>siehe auch die Diskussion hier <<
Warum habe ich das verlinkt? Um das konkrete Beispiel IAA in den richtigen Zusammenhang mit dem dort Diskutierten zu stellen.