Im Freitag Nummer 16 befasste sich der Sportplatz mit dem Angeln. Als Antwort erreichte uns der folgende Text eines russischen Autors.
Im Frühjahr erscheinen in etlichen russischen Zeitungen Artikel mit Titeln wie Im Eimer weggetragen oder Vier Tage auf der Eisscholle, wobei es um unglaublich erfolgreiche oder unglaublich gefährliche Angeltouren geht. Doch mehr erfährt man selten. Dabei führt das Thema in eine exotische Welt der Risiken und Abenteuer, der Erfolge und tiefen menschlichen Beziehungen.
Dem Erforscher der Angler-Subkultur fällt als erstes auf, dass Fischefangen ein demokratisches Vergnügen zu sein scheint. Es begeistern sich dafür siebenjährige Kinder und 70-jährige Alte, Obdachlose, unsere "neuen Russen", Armeeangehörige, Handwe
#246;rige, Handwerker und Ingenieure - nur die Frauen fehlen. Die Leidenschaft zum Angeln kommt wohl nicht von der Klassenzugehörigkeit, sondern ist ein Aspekt unserer russischen Kultur. Die Kinder lernen, die Welt in "männlich" und "weiblich" einzuteilen, und das Angeln ist ganz klar ein Privileg der Jungen. Wenn wir nicht wüssten, dass kindliche Vorstellungen sehr lebhaft sind und ernste Einflüsse auf das weitere Leben haben, so belehrte uns das Beispiel des Angelns. Alle von mir befragten Angler fingen im Alter zwischen sechs und dreizehn Jahren mit dem Fischefangen an.Die Angler selbst betonen ihre Liebe zur Natur oder den materiellen Nutzen. Und tatsächlich: das Angeln wirkt stressmindernd, hält körperlich fit und bessert manchmal sogar das Familienbudget auf, sei es in Geld- oder in Naturalform. Auch ist der Wert der Kontaktpflege nicht zu vergessen, denn Angeln ist meist eine Gruppenveranstaltung von mindestens zwei bis vier Personen. Es gibt recht stabile Vereine von Leuten, die sich von der Arbeit oder schon seit der Kindheit kennen, doch bilden sich manche Gruppen auch erst am Ufer eines Flusses oder auf dem Eis. Oft ergibt sich dann eine Freundschaft fürs Leben, aber nur, wenn auch die Regeln dieses ganz eigenen Milieus beachtet werden.Da sind die Regeln zur Ausrüstung. Oft bleibt das Angelzeug unbeobachtet stehen, weshalb es oberstes Gebot ist, dass ein echter Angler niemals fremdes Angelzeug anrührt. Ein Fisch, der mit einer ausgeliehenen Angelrute gefangen wurde, wird mit deren Besitzer geteilt, und verboten sind Fangmethoden wie etwa Unterwassersprengungen oder Elektroangeln.Andere Regeln beziehen sich auf das Verhalten: ein Angler soll seine Köder teilen und einen Abstand von mindestens 15 bis 20 Meter zum nächsten Angler einhalten. Und auch den Fang selbst umgeben Regeln: Der erste in einer Saison gefangene Fisch wird nicht verkauft, und Fische, die man in einer bestimmten Region fangen kann, kauft man nicht im Laden - das gilt als unsportlich.Natürlich gibt es auch Sanktionen im Falle der Regelverletzung. Wer nicht rechtzeitig die Fangleinen in den Eislöchern überprüft, wer nicht kochen will oder sein Angelzeug nicht pflegt, wird auf keine Tour mehr mitgenommen. Ebenso wenig der, der den ersten Fang der Saison verkauft oder den Verkaufserlös vertrinkt. Angler, die ungerne ihre Köder teilen oder die Abstände während des Angelns nicht einhalten, werden auf jeden Fall getadelt. Wirklich harte Strafen treffen aber diejenigen, die fremdes Angelzeug zerstören, Netze oder Fangleinen stehlen, was leider immer wieder vorkommt.Ich selbst war dabei, als auf einer Tour Angelzeug gestohlen wurde. Im Zorn sprach man gar davon, an den Fangleinen Granaten zu befestigen, um solche Leute ein für alle Mal abzuschrecken. Solche Ideen werden wohl nicht in die Tat umgesetzt, aber Diebe müssen mit einigem rechnen: mit Prügel, Entkleidung ("soll er doch so im Schnee nach Hause laufen") oder auch mit dem Durchziehen unter dem Eis von einem Eisloch zum anderen. Auch Morde wurden schon zur Anzeige gebracht.Natürlich sind nicht alle Angler gleich. Die Einheimischen lehnen die "Zugvögel" ab und die richtigen Angler, die auch aufs Eis gehen, erheben sich weit über die "Sommerangler", die sich nur ans offene Wasser wagen. Aber vor allem wird danach unterschieden, ob beim Angeln getrunken wird. Die Anhänger des "nüchternen Angelns" warnen vor Gefahren wie Erfrierungen oder Überanstrengung und meinen, dass den Trinkern das Angeln doch nur als Vorwand diene. Für den Alkohol spricht dagegen, dass er wärmt, anheitert und die Zeit vertreibt, wenn die Fische einfach nicht anbeißen wollen.Zwischen den Gruppen herrscht ein erbitterter Kampf um Angelplätze, doch verbindet sie alle die große Leidenschaft, ihre Freizeit mit dem abenteuerlichen und oft riskanten Spiel zu verbringen, das man Angeln nennt. Wer sie beobachtet, glaubt sofort an die Wahrhaftigkeit dessen, was mir ein Informant anvertraute: "Arbeit - die machen wir, wenn wir mal gerade nicht angeln".Der Autor ist Mitarbeiter des Centre for Independent Social Research (CISR). Übersetzt und bearbeitet von Ingrid Oswald.