Etwa 40.000 neue Fälle von Koma gibt es jährlich in Deutschland. Häufig sind sie die Folge von Verkehrsunfällen. Bei Kindern sind oft auch Fahrradunfälle die Ursache sowie Ertrinken. Ein Drittel der Betroffenen werden von ihren Familien betreut. Die Anderen leben in öffentlichen oder privaten Einrichtungen, viele in Pflegeheimen, in denen sie keinerlei Therapie erhalten. Bundesweit erhalten Betroffene Rat und Unterstützung durch das Notruftelefon der Organisation »Schädel-Hirn-Patienten in Not«: 09621/64 800.
Der Abend beginnt wie jeder andere auch. Um 18 Uhr deckt Monika Hoffmann den Tisch. Sie wartet auf ihren Lebenspartner. Eigentlich müss te er längst zurück sein, denkt sie. Aber er kommt nicht. »Eine ganze Woche lang habe ich nichts von ihm gehört. Diese Erfahrung wünsche ich keinem Menschen. Ich habe mir eine Menge Gedanken gemacht, habe Angst gehabt, dass er tot ist, umgebracht worden zum Beispiel. Und das alles nur, weil es im Krankenhaus niemand für nötig gehalten hat, mir Bescheid zu sagen.«
Erst nach sieben Tagen voller Sorge kommt der Anruf der Klinik. Eine Krankenschwester teilt Monika Hoffmann mit, dass ihr Partner einen Autounfall hatte und auf der Intensivstation liegt - im Koma.
»Er hat immer gesagt, dass ihm in seinem Volvo so etwas nicht passieren kann. Und dann ist es doch passiert. Totalschaden. Er ist mit dem Kopf vorn durch die Scheibe und dann nach hinten geflogen. Er hat also vorn und hinten schwere Verletzungen im Gehirn gehabt.«
Der erste Besuch ist ein Schock. Intensivstation: Kabel über Kabel, piepsende Geräte. Mittendrin ihr Lebenspartner, beinahe regungslos. Immerhin atmet er selbständig, braucht keine Herz-Lungen-Maschine. »Er lag so friedlich da. Nicht lächelnd, aber so ganz ruhig atmend. Ich dachte zu Anfang immer: Gleich spricht er und sagt: Komm, wir geh'n nach Hause!«
Was ist Koma? Monika Hoffmann will alles wissen, will begreifen, was vor sich geht. Sie besorgt sich Bücher, liest. Sie spricht mit Freunden ihres Partners, die Ärzte sind, wie er auch, sucht nach Klarheit. »Es gibt keine Regel für den Verlauf eines Schädel-Hirn-Traumas, das wusste ich schon nach kurzer Zeit. Es kommt immer darauf an, in welchem Teil des Gehirns die Verletzungen liegen.«
Koma, Wachkoma, apallisches Syndrom - mit den meisten Wörtern, die dieses Problem beschreiben, ist Monika Hoffmann nicht zufrieden. »Viele sprechen von Apallikern, und das ist aus meiner Sicht ein ganz negativer Stempel, weil das immer so wirkt, als wenn ein Mensch zwangsläufig in diesem Stadium bleibt.« Sie nennt es »apallisches Durchgangssyndrom«. Das gibt Hoffnung. Alles kann sich noch verbessern. Kann. Es muss aber nicht.
Die Ärzte machen ihr wenig Hoffnungen: wenig Aussicht auf ein Erwachen, keine Hoffnungen, dass er je wieder sprechen wird. Die schwierigste Situation kommt nach fünf Monaten: Die Entscheidung über Leben und Tod. »Da ist nichts mehr drin«, sagt der behandelnde Arzt und lässt durchblicken, dass man das Problem durch die Entfernung der Magensonde lösen könne. »Sie nennen das Âdie Magensonde ziehenÂ. Mein Partner wäre verhungert.«
Vor diese Entscheidung werden viele Angehörige von Koma-Patienten gestellt. Immer wieder hat Monika Hoffmann das später von anderen Betroffenen gehört. Die Medizin vermag viele Menschen zu retten, die noch vor einigen Jahrzehnten keine Chance hatten. Wenn jemand aber ein lebenslanger Pflegefall zu werden droht, dann kommt von Ärzten die Frage, ob nicht die künstliche Ernährung beendet werden sollte. »Auf mich wirkte das wie eine besonders drastische Form von Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen. Ich wusste zum Glück sehr genau, dass ich mit dieser Entscheidung nicht leben könnte und habe dem behandelnden Arzt klar gemacht, dass so etwas für mich nicht in Frage kommt. Ich war mir sicher: Bei meinem Partner war noch ganz viel zu machen.«
Verlegung in ein anderes Krankenhaus, mit mehr Therapieangeboten: Sitzen im Bett, Sitzen im Rollstuhl, Gehen mit Unterstützung von zwei Pflegern. »Man geht davon aus, dass das Gehirn wacher wird, wenn ein Komapatient nicht nur liegt. Es besteht die Hoffnung, durch die Mobilisierung des Körpers auch das Gehirn und die Psyche anzuregen.«
Irgendwann drückt ihr Partner zum ersten Mal ihre Hand, während sie ihn streichelt. So als wolle er sagen: Ich bin da, ich erkenne dich. »In solchen Augenblicken kommt natürlich gerade kein Arzt herein. Und wenn man ihnen davon erzählt, dann glauben sie es nicht. Sie halten das für Spinnereien von Angehörigen.«
Eine besonders engagierte Krankenschwester gibt Monika Hoffmanns Partner einfach mal ein bisschen Joghurt in den Mund - und siehe da, er fängt an zu schlucken. Langsam zwar, aber immerhin. Nach einigen Monaten kann die künstliche Ernährung beendet werden. »Er musste gefüttert werden, aber er fing an zu essen. Für mich war das ein ganz wichtiger Schritt, ein deutliches Ja zum Leben.« Nach einem halben Jahr schlägt ihr Partner die Augen auf. Das ist kein Ende des Komas, nur ein weiterer Schritt in Richtung Leben. Sein Blick schweift in die Ferne, ins Unendliche, »ins Nirwana«, wie Monika Hoffmann es nennt. Wachkoma heißt dieser Zustand.
Neben der täglichen Betreuung am Krankenbett arbeitet Monika Hoffmann als Psychologin. Drei Wochen Unterbrechung hat sie sich zu Anfang gegönnt. »Ich hatte das Gefühl, keinem anderen etwas geben zu können in dieser Zeit. Aber dann habe ich meine Arbeit wieder aufgenommen. Das hat mir sehr geholfen, die Nase oben zu behalten.« Wer nicht berufstätig ist, vereinsamt oft und neigt zu Depressionen.
Stunden am Krankenbett: Fußreflexzonenmassage, Handreflexzonenmassage, Streicheln. Häufig reagiert ihr Partner, seine Gesichtszüge entspannen sich. Und immer wieder reden mit einem Menschen, der nicht antwortet, nicht antworten kann. »Wenn man dann keinen Gesprächspartner hat, der das auch kennt, der auch immer am Krankenbett sitzt, dann weiß man überhaupt nicht, wie man damit fertig werden soll.« Sie sucht nach anderen Angehörigen, gründet eine Selbsthilfegruppe.
Manchmal wird Monika Hoffmann überwältigt von Phantasien: Gleich ist alles wieder gut. Gleich ist alles vorbei. »Ich schob ihn einmal über ein Holperpflaster im Park des Krankenhauses. Da hatte ich die Vision, jetzt spuckt er gleich etwas aus, so wie Schneewittchen den Apfel und dann kann er wieder sprechen. Natürlich wusste ich, dass das Wachwerden eines Komapatienten so nicht abläuft. Aber die Hoffnung war doch lange Zeit da, dass er einfach wieder sprechen kann und alles ist so wie früher.«
Nach sechs Monaten im Krankenhaus kommt Monika Hoffmanns Partner in eine Rehabilitationseinrichtung, kurz Reha. Viele Angehörige wissen nichts von dieser Möglichkeit. Nur wenn in den ersten zwei bis drei Jahren viel therapiert wird, hat ein Komapatient eine Chance. Sonst wird er in der Regel zu einem Pflegefall. »In ganz Berlin gibt es keine Reha für Komapatienten, obwohl es hier an jedem Wochenende neue Komafälle gibt, durch die vielen Verkehrsunfälle.« Schließlich findet sie eine Einrichtung in Brandenburg, nur sechzig Kilometer entfernt. So kann sie ihn weiterhin oft besuchen. »Da habe ich dann wirklich nur gute Erfahrungen gemacht. Es gab eine gute Betreuung, einen guten Arzt und sehr, sehr gute Physiotherapeuten.«
Ein Komapatient braucht Anregung, braucht Vertrautes. »Musik! Diese Idee kam mir in der Zeit, als er in der Reha lag. Ich habe Instrumente mitgebracht, Xylophon, Trommel, eine Zither.« Sie singt ihm Lieder vor, die er kennt. Ein Musiktherapeut kommt in die Krankenzimmer, spielt auf einem fremdartigen, türkischen Musikinstrument. Manchmal mit Erfolg: Einige Patienten haben zum ersten Mal wieder einen klaren, konzentrierten Blick.
Schließlich die ersten Wörter. Nie mehr würde er sprechen können, hatten die Ärzte in der Klinik gesagt. Sie haben sich geirrt. Monika Hoffmanns Partner spricht, manchmal nur und zumeist stockend. Er erzählt Erlebnisse aus seinem Leben, spricht über seine Situation, beginnt sogar zu schreiben und zu malen. »Er genießt es sehr, wenn ich komme. Das spüre ich ganz genau. Nach neun Monaten hat er mich zum ersten Mal gestreichelt. Das war für mich wie eine Liebesnacht.«
Ein Jahr nach dem Unfall kommt er in eine Behindertenwohngemeinschaft. Von dort aus wird er das erste Mal in ihre Wohnung gebracht. Zwei Pfleger wuchten den Rollstuhl die Treppen hoch in den zweiten Stock. »Er hat in der Küche gesessen, hat die Zucchini geschnitten, und ich habe gekocht. Das hat ihm sehr gut getan. Er ist richtig aufgelebt, hat angefangen, sehr viel zu sprechen, hat Lieder gesungen.«
In ihrem Kopf dreht sich ein Karussell von Gedanken: Hoffnung auf eine Verbesserung seines Zustands - Selbstvorwürfe, weil sie nicht genug Zeit hatte - Wut über verpasste Chancen in der Klinik - innerer Abschied von einem Partner, der zwar lebt, aber doch kein Partner mehr ist. »Ich hatte mir meine Zukunft anders vorgestellt. Ich hatte das Gefühl gehabt, da ist ein Partner, mit dem ich alt werden kann. Und dann nach anderthalb Jahren dieser radikale Schnitt. Das hat mich umgehauen.«
Bis heute, drei Jahre nach dem Unfall, trauert sie um den Verlust ihres Partners. Wenn sie nach Hause kommt, dann ist da keiner mehr. Die Gespräche, die früher das Leben bereicherten, finden nicht mehr statt. Der Tod eines Menschen ist vermutlich leichter zu verkraften. Der Tod hat die Endgültigkeit. Doch beim Koma gibt es kein klares Ja oder Nein. Es ist ein ständiges Schwanken zwischen Hoffnung und absoluter Traurigkeit.
»Er ist im Moment für mich kein Partner mehr, so hilflos wie er ist. Er ist mein Kind, da mache ich mir nichts vor.«
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