Konkurrenz und Kalkül

WTO UND CHINA Der Politikwissenschaftler Hansgeorg Conert zu Sozialnormen und einer möglichen WTO-Aufnahme Chinas

Die ökonomisch potentesten Akteure drängen mit der WTO-Konferenz von Seattle auf Anpassung und Erweiterung der "Spielregeln" des Welthandels - und zwar nach ihren Interessen und Möglichkeiten. Das entspricht der strukturellen Asymmetrie auf dem Weltmarkt, die ohnehin bestehende Ungleichheit der Chancen wird so befestigt. Der Bremer Politikwissenschaftler Hansgeorg Conert hat sich vor diesem Hintergrund mit der Frage nach Normativen im Welthandel beschäftigt, die vor allem für die Staaten der Dritten Welt von Bedeutung wären.

FREITAG: Innerhalb der WTO wird die Einführung von Sozial- und Umweltstandards gefordert, um den entfesselten Kapitalismus wieder etwas zu zähmen. Inzwischen haben sich Wissenschaftler aus Ländern des Südens gegen solche Standards ausgesprochen. Wie bewerten Sie das?

HANSGEORG CONERT: Diese Position überzeugt mich allenfalls teilweise. Das Motiv der Befürworter sozialer und ökologischer Mindeststandards in WTO-initiierten Normierungen ist natürlich nicht die Erschwerung des Handels der Dritten Welt, sondern die Durchsetzung von Mindestbarrieren gegen eine desaströse Konkurrenz auf Kosten der Umwelt, der Löhne und der sozialen Sicherung. Ich bestreite zwar nicht, dass dieses Anliegen eher der Sichtweise von Globalisierungskritikern aus der Ersten Welt entspringt und dass die befürchtete Konsequenz in diesem oder jenem Einzelfall zutreffen mag. Die aus den ökonomisch-technologischen Entwicklungs- und Machtdivergenzen zwischen den Ökonomien resultierende Diskriminierung der Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt ist jedoch wesentlich schwerwiegender als es soziale Mindeststandards je sein können, was manche Wissenschaftlicher des Südens in ihrem ricardianischen Freihandelsoptimismus meiner Meinung nach verkennen.

Betrachten Sie die WTO heute als das entscheidende Instrument der Globalisierung?

Man muss zwischen Akteur und Instrument unterscheiden. Die maßgeblichen Akteure der Globalisierung sind die hochkonzentrierten und -zentralisierten Einzelkapitale vor allem der avancierten kapitalistischen Gesellschaften sowie deren Finanzkapital. Die WTO wie auch IWF, Weltbank oder OECD sind ihrer Funktion gemäß ganz oder zumindest überwiegend Weltmarkt agenturen. Diese Institutionen sind nicht identisch mit Weltmarkt-Akteuren, wie es Konzerne sind. Sie haben regulierende Funktionen, sind deshalb aber noch lange nicht neutral. Sie handeln im Sinne der herrschenden Kapitale und sind daher Instrumente, wobei ich in der WTO nicht die Entscheidende dieser Agenturen sehe.

In der WTO fehlen zwei Welthandelsmächte: Russland und China ...

Die WTO ist eben nicht daran interessiert, Staaten als Mitglieder aufzunehmen, deren Ökonomien erkennbar nicht - oder nur stark risikobehaftet - im Stande sind, deren Regeln zu befolgen, die sie dann als Mitglieder womöglich in Frage stellen. In dieser Frage kann es Divergenzen zwischen Politikern und Ökonomen geben, wenn etwa Präsident Clinton Russland politisch belohnen will für das Einschwenken auf den NATO-Kurs gegen Serbien, während die Fachleute vor den Risiken warnen. Unter ökonomischem Aspekt ist allerdings für die WTO sicher die Aufnahme Chinas vorrangiger. Und die dürfte in absehbarer Zeit erfolgen.

Welche Konsequenzen hat es, wenn Russland außerhalb der WTO bleibt?

Im Falle Russlands sind sie nicht sehr tragisch. Zum einen wird das Land aus politischen Erwägungen - als Atommacht und als potenzieller weltpolitischer Kontrahent - primär auf Geheiß der USA von IWF, Weltbank, Pariser Club ungewöhnlich großzügig behandelt - auch ohne WTO-Beitritt. Zum anderen zeichnet sich der russische Export durch eine fast totale Monostruktur aus: Energieträger, Rohstoffe, einige wenige Halbfabrikate. Für den größten Anteil dieser Erzeugnisse besteht im Westen zureichender Bedarf, so dass der Absatz auch ohne Meistbegünstigung möglich ist.

Aber China braucht diese schon ...

Sicher, in diesem Fall gibt es eine weitaus größere Palette verfügbarer und potenzieller Exportwaren, die jedoch mit den Erzeugnissen anderer Länder konkurrieren müssen, weshalb die Meistbegünstigung wesentlich ist.

Wie wirkt sich nach Ihrem Eindruck die Globalisierung auf die Verteilung von Wohlstand aus?

Ich vertrete die These, dass im entwickelten Kapitalismus eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und gesellschaftlicher Wohlstandsmehrung erfolgt; ersteres bewirkt nicht mehr letzteres. Zumindest drei Momente weisen dahin: das tendenziell stagnierende Realeinkommen der Lohnabhängigen bei wachsenden Kapitaleinkommen, zweitens die Zunahme der von Marx als faux frais bezeichneten "toten Kosten" kapitalistischer Produktion zur Kompensation von Naturzerstörung und Arbeitskraftverschleiß, steigende Gemeinkosten und nicht zuletzt die ständige Erneuerung der Militärapparate. Und drittens die Erzeugung und werbemäßige Oktroyierung von Waren und Diensten ohne realen Gebrauchswert.

Warum ist eine wachsende Ungleichheit nicht Anlass für mehr Protest und Widerstand?

Es ist notwendig, dabei zwischen Erster und Dritter Welt zu unterscheiden. Meiner Meinung nach sind in der Dritten Welt alle aktiven Widerstandsformen berechtigt und wichtig, seien es die - allerdings wieder abgeflauten - Proteste der südkoreanischen Gewerkschaften gegen Entlassungen infolge der asiatischen Währungs- und Finanzkrise oder die aktuellen Aktionen gegen die neoliberal-monetaristische Politik in Brasilien und Argentinien, erst recht natürlich der Widerstand in Chiapas. Der Grad existenzieller Betroffenheit der Opfer in jenen Teilen der Welt bringt es mit sich, dass die Kämpfe fast immer als antikapitalistisch erkennbar sind. - Anders sind die viel stärker institutionalisierten und verrechtlichten Aktionen gegen die Praktiken des shareholder-Kapitalismus in den Gesellschaften der Ersten Welt zu beurteilen. Hier überwiegen immer noch korporatistische Deutungsmuster der Betroffenen und ihrer Interessenvertretungen, die noch die bloße Erkenntnis der Konsequenzen neoliberal-monetaristischer Hegemonie blockieren. Massenorganisationen, die einst als Anwalt einer solidarischen Gesellschaft verstanden wurden wie etwa sozialistische Parteien und Gewerkschaften, verfolgten diese Orientierung immer weniger und gaben sie nach dem Triumph der neoliberalen Ideologie so gut wie völlig auf. Andererseits ist heute die Zahl der BürgerInnen nicht gering, die über die inhumanen und destruktiven Tendenzen und Wirkungen der kapitalistischen Profit ökonomie informiert sind, die aber mehr oder weniger in privater Isoliertheit verharren.

Das Gespräch führte Stephan Günther

Hansgeorg Conert ist Autor des Buches Vom Handelskapital zur Globalisierung. Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie. Münster 1998.

Die vollständige Fassung des Interviews erscheint in einer Sonderausgabe von iz3w. Zu beziehen über Redaktion iz3w, PF 5328, 79020 Freiburg

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