Auf den ersten Blick ist die Debatte um Familienpolitik, Gender Mainstreaming und neuen Feminismus zu begrüßen. Endlich wird wieder öffentlich darüber gestritten, was Geschlechtergerechtigkeit heißen könnte. Was sie mit Blick auf Politik und öffentliche Verwaltung bedeutet und was mit Blick auf Haushalts- und Fürsorgearbeit. Auf welchen Wegen sie erreichbar scheint. Und was ihre Konsequenzen wären. Dass es Bedarf an einer solchen Debatte gibt, beweist allein schon ihre Dauer. Spätestens seit Die Zeit im vergangenen Sommer nach einem neuen Feminismus rief und 15 beruflich profilierte Frauen Bilanz über Geschlechterfragen ziehen ließ, wird die Diskussion unentwegt befeuert. Die Nachrichtensprecherin Eva Herman verkündet, das Glück der Erde läge im Kinderwagenschieben und der Hausfrauenschaft; die Schriftstellerin Thea Dorn propagiert die neue F-Klasse, einen Quasi-Feminismus - sie mag das Wort Feminismus nicht - für durchsetzungsstarke Individualistinnen; der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz poltert gegen eine Familienpolitik, die Männern das wahrhafte Mannsein unmöglich mache.
Schaut man sich das, was in den verschiedenen Beiträgen verhandelt wird, jedoch genauer an, und achtet man dabei besonders darauf, wer wen wie darstellt, so ist die Debatte nicht mehr vor allem gut, sondern vor allem bizarr. Oder auch bezeichnend, und zwar für die Kraft antifeministischer Rhetorik, die man etwas pessimistischer auch als die Macht des antifeministischen Diskurses beschreiben könnte. Eines Diskurses, der längst fast alle Statements der Debatte erfasst hat, und zwar nicht nur diejenigen der Hermans und Bolzens, sondern auch jene, die auf eindeutige Plädoyers für geschlechterpolitischen Wandel hinauslaufen. Also auf Proklamationen des alten, meist aber eines neuen Feminismus. Besonders deutlich wird dies beim Umgang mit der Figur des Opfers, die erstaunlich prominent ist in der aktuellen Geschlechterdebatte; als ob es nach nun schon gut 40 Jahren neuer Frauenbewegung und feministischer Theorie - zumindest in Westdeutschland - nicht auch nuancierter ginge.
Opfer - soviel ist sonnenklar - will unter den neuen Feministinnen keine sein. Das ist durchaus verständlich - zumal in einer Zeit, in der vor allem Stärke zählt, und in der symptomatischerweise "Du Opfer" auf den Schulhöfen als Schimpfwort grassiert. Weniger nachvollziehbar ist jedoch, warum es zum guten Ton des neuen Feminismus zu gehören scheint, sich vom alten Feminismus abzugrenzen. Wobei dessen Protagonistinnen, die alten Feministinnen also, in erster Linie der Selbstviktimisierung bezichtigt werden. Der neue Feminismus hebt sich vom alten dadurch ab, kein "Opferfeminismus" sein zu wollen. Das geht nun allerdings schon seit Jahren so.
"Der angebliche Feminismus ist in der Bundesrepublik zu einem Opferritual verkommen", konstatierte Signe Zerrahn bereits 1995. Die "Mütter der Bewegung" sähen jede Frau als "armes Häschen, das von der Gemeinschaft der Schwestern gehätschelt und getätschelt werden muss", schrieb Zerrahn in ihrem Buch Entmannt - Wider den Trivialfeminismus; als ob Konkurrenz und Ränkeschmiederei - so unangenehm sie auch sein mögen - vor feministischen Kreisen je halt gemacht hätten. Vier Jahre später bliesen Susanne Weingarten und Marianne Wellershoff - Autorinnen des Bandes Die widerspenstigen Töchter. Für eine neue Frauenbewegung - in das gleiche Horn. Angesichts einer bloß verhaltenen Begeisterung von Mädchen und jungen Frauen für die feministische Sache mutmaßten sie, dass jenen wohl "die pauschalisierende Opfer-Rolle zuwider ist, in die sie sich von der traditionellen Frauenbewegung gedrängt fühlen". Dieser sei ein entscheidender Fehler anzulasten: anstatt den notwendigen Kampf gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu führen, habe sie sich gemütlich in der Identität des Opfers eingerichtet.
Die fragwürdige These von der Passivität just jener Frauen, die das Label "Feministin" für sich beanspruchen, befeuert seit dem letzten Jahr nun auch Thea Dorn. Zumindest implizit. In ihrem Portraitband Die neue F-Klasse, einer Leistungsschau erfolgreicher weiblicher Biografien, betont sie, dass keine der Frauen, die sie interessierten, "in irgendeiner Weise Wert darauf legen würde, für benachteiligt oder gar für ein Opfer gehalten zu werden". Das ist einer der Gründe, weshalb sie in ihrem Buch darauf verzichtet, positiv auf den "Feminismus" Bezug zu nehmen.
Nun ist nicht zu leugnen, dass es in feministischen Analysen tatsächlich um die unterschiedlichsten Facetten geschlechtlicher Benachteiligung geht, und dass Frauen da nach wie vor meist schlechter dastehen als Männer. Wer Nachweise sucht, schaue nur in den jüngsten Report des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zum Lohngefälle zwischen Frauen und Männern. Dazu kommt der Differenzfeminismus. Darunter versteht man eine Position, die den Unterschied der Geschlechter betont und zudem Werte, die traditionell Frauen zugeschrieben werden - etwa Fürsorglichkeit und Beziehungsdenken - aufwertet und gesamtgesellschaftlich relevanter zu machen trachtet. Der Differenzfeminismus bezieht sich mit diesem Programm also tatsächlich affirmativ auf Attribute, die eher Abhängigkeit und Selbstbescheidung nahe legen als Durchsetzungsvermögen. Aber muss man das - wie berechtigt mancher Einwand dagegen auch sein mag - als Selbstviktimisierung missverstehen? Und, weit gewichtiger: was legt nahe, eine heterogene politische Bewegung in ihrer Gesamtheit abzulehnen, bloß weil man einzelne ihrer Stränge und Akteurinnen für kritikwürdig hält? Das wäre, wie gegen die gesamte Bundesliga zu sein, bloß weil man findet, mehrere ihrer Teams spielten schlecht. Denn längst nicht jede selbsterklärte Feministin ist Differenzfeministin - viele betonen eher die Gleichheit als die Differenz der Geschlechter, oder gehen sogar noch einen Schritt weiter, und interessieren sich vor allem dafür, wie Vorstellungen von Geschlecht überhaupt erzeugt und gestützt werden. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch, dass sie geschlechtlich vermittelte Ungerechtigkeit anprangern und adäquate Gegenmittel suchen, wie auch immer die im Detail aussehen mögen. Warum also diese einseitigen und verkürzenden Interpretationen? Und woher kommt der Opferfeminismusvorwurf? Versuchen wir eine Antwort über einen kurzen Umweg.
Folgt man dem afroamerikanischen Philosophen Tommy Shelby, der sich in seinem unlängst erschienenen Buch We Who Are Dark um eine theoretische Fundierung schwarzer Solidarität bemüht, so lässt sich ein analoger Fall des diskreditierenden Gebrauchs der Opfer-Metapher in den USA beobachten. Konservative Kräfte, schreibt Shelby, diffamierten den Ruf nach schwarzer Solidarität als Ausdruck einer "Opfermentalität". Anstatt über ihre Situation zu lamentieren, sollten Afroamerikaner lieber aktiv die Chancen wahrnehmen, die Amerika biete. Der Kampf um "Rassengerechtigkeit" sei längst gewonnen; das Problem anhaltender Ungleichbehandlung sei daher auch nicht mehr strukturell bedingt, sondern eine Sache persönlicher Einstellungen und Einsatzbereitschaft.
Schon mal gehört? Vielleicht bei Dorn, die bekräftigt, in ihrem Programm der F-Klasse gehe es weniger um "Frauensolidarität um jeden Preis" denn um "Klasse-Frauen", ausgezeichnet "durch das individuell von ihr Erreichte und Gelebte"? Oder in der Zeit, die in einer Redaktionsnotiz just zu jener Ausgabe, die der Forderung eines neuen Feminismus verschrieben war, entschuldigend kundtat, "einen neuen Feminismus zu fordern war in den letzten 20 Jahren so ziemlich das Unsouveränste, was man als Frau tun konnte", denn "man outete sich damit nicht als kämpferisch, sondern als schwach, als eine, die sich noch immer als Opfer der Verhältnisse begreift"? Es steht zu befürchten, dass die neuen Feministinnen - ob sie sich nun so nennen oder nicht - hier konservative, antifeministische Parolen reproduzieren. Das mag opportun sein in einer Welt, die von konservativem und antifeministischem Denken geprägt ist. Doch Opportunismus war noch nie eine Erfolg versprechende feministische Tugend. Man muss sich also fragen, ob nicht die Anschlussfähigkeit an dominante Diskurskonjunkturen zum Preis der feministischen Entsolidarisierung erkauft wird, zu einem Preis, der sich am Ende selbst für die Sache der F-Klasse als zu hoch erweisen könnte.
Nun sollte nicht so getan werden, als habe der Feminismus niemals die zweifelhafte politische Strategie des Moralisierens verwendet. Er hat. Und tatsächlich ist die Strategie des Moralisierens immer schon eine Strategie der Schwäche. Eine soziale Gruppe, die sich für benachteiligt hält, weist privilegierte soziale Gruppen darauf hin, dass deren Privilegien vor dem Hintergrund allgemeiner Gleichheitsversprechen ungerecht sind. Bei jenen Mitgliedern der privilegierten Gruppen, die die Ungerechtigkeitsdiagnose teilen, erzeugt das im Zweifelsfalle ein schlechtes Gewissen - und im Glücksfalle politisches Handeln. Nun finden wohl die meisten Menschen ein schlechtes Gewissen unangenehm - manchmal wollen sie daher nicht allzu viel zu tun haben mit jenen, die es in ihnen hervorrufen könnten. Unangenehm ist selbstverständlich auch der Job, ein schlechtes Gewissen zu erzeugen; man macht sich damit nicht beliebt. Die neofeministische Abwehr des Opferfeminismus kann vor diesem Hintergrund als Ansage verstanden werden, dass es ab sofort ohne Moralisieren gehen soll. Das ist zunächst angenehm für alle. Wie weit der Friede trägt, wird sich zeigen müssen. Denn es könnte sein, dass der Hinweis auf ungerechte Verhältnisse durch diejenigen, die besonders durch sie benachteiligt sind, immer gefährdet ist, als Moralismus interpretiert zu werden. Das ist kein Argument für aktives Moralisieren - aber die Vermutung, dass sich der Feminismus gegen den Moralismusvorwurf nicht vollends immunisieren kann. Er sollte es daher auch nicht versuchen, vor allem nicht mit dem Mittel der Entsolidarisierung.
Dass wir einen neuen Feminismus tatsächlich brauchen, darüber werden sich alle, die über Geschlechterverhältnisse nachdenken, wohl schnell einig werden können. Die Herausforderungen von heute sind andere als diejenigen, auf die der Feminismus der siebziger Jahre reagierte. Politisch sinnvoller als die Geste des großen Bruchs, demonstriert durch den Griff in die antifeministische Klamottenkiste, wäre hier allerdings eine durchdachte Revision. Eine Revision, die nach wie vor gültige Versatzstücke des Alten mit Neuem verbindet und Kraft eher aus ihren Zielen schöpft denn aus dem Versuch, sich im konservativen Lager beliebt zu machen - sei es durch die Rhetorik individueller Leistungsfähigkeit oder durch die Entsolidarisierung mit jenem Feminismus alter Schule, der durch das Anprangern gesellschaftlicher Strukturen und durch radikale Forderungen aufgefallen ist.
Schließlich, und das ist vielleicht mehr als nur eine Petitesse, wird an anderer Front stilisiert und gejammert, was das Zeug hält. Denn während die neuen Feministinnen wieder und wieder betonen, keine Opfer zu sein, viktimisieren sich in der aktuellen Geschlechterdebatte vermehrt die antifeministischen Männer. Vorreiter ist hier der Interessenverband MANNdat, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, öffentlich aufzuzeigen, "wo Männer überall zu kurz kommen". Ohne Stärkung der Rechte von Männern und Jungen, so der Verein, sei eine "wirkliche Gleichberechtigung" unmöglich. Einen lautstarken Leidensgenossen findet der Verein in Norbert Bolz, der sich ebenfalls als Opfer wähnt: Feministinnen, Politiker und Bevölkerungswissenschaftler arbeiteten an einer Umerziehung der Männer. Sie bürdeten ihnen Verantwortung für Haushalt und Familie auf und machten sie damit für Frauen unattraktiv. Was soll man dazu sagen?
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