Kontinentalgraben

Wertemix Amerikanische Freiheit und europäische Gleichheit müssen miteinander versöhnt werden

Zu den zahllosen Bereichen, in denen zwischen Amerikanern und Europäern kulturelle Unterschiede zutage treten, gehört die Stellung der amerikanischen Frau, die Kastrationsängste weckt und europäische Männer ebenso einschüchtert wie der übermächtige arabische Mann die europäischen Frauen." Dieses hübsche Zitat stammt aus dem Buch von Emanuel Todd Weltmacht USA. Ein Nachruf. Viel ist über das Buch debattiert worden, doch eigenartigerweise überlas man geflissentlich solche Passagen. Konstruktionen von Kollektivsingularen wie "die amerikanische Frau", "der europäische" oder "der arabische Mann" durchziehen das ganze Buch und sind Bestandteil eines einfältig-konservativen Altherrendenkens, das die - nicht nur feministische - Kritik leider nicht erfolgreich genug zersetzt hat. Es gibt so viele amerikanische Frauen, dass es mit dem Teufel zugehen müsste, wenn nicht auch eine darunter wäre, in deren Gegenwart auch Todd nicht um sein Gemächte glaubt fürchten zu müssen.

Dennoch steckt ein Fünkchen Wahrheit in Todds Klischee, denn immer wieder blicken wir (Frauen) neidvoll über den Atlantik und müssen anerkennen, dass die Einlösung des Anspruchs auf gleiche Teilhabe am materiell-gesellschaftlichen Leben für Frauen in den USA eindeutig weiter geht als in Europa, zumal in Deutschland. Wenn solche Differenzen mit unseren alteuropäischen Werten begründet werden, woran sollen sich Frauen orientieren, denen die Realisierung von Emanzipation und Partizipation in Europa nicht weit genug geht?

Hier liegt ein ernstes Problem. In dem Ausspielen europäischer gegen amerikanische Werte geht es um ein unterschiedliches Verständnis von Freiheit und Gleichheit. Soll Gleichheit ein gleiches Maß an Freiheit meinen oder soll Gleichheit Solidarität und ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit einschließen? Gleichheit im Sinne eines prinzipiell gleichen Maßes an Freiheit führt eher dazu, dass auch Frauen oder Angehörige ethnischer oder sexueller Minderheiten dieses Maß für sich in Anspruch nehmen können. Wenn es das in Europa gäbe, müsste es einen europäischen Colin Powell beziehungsweise eine europäische Condoleeza Rice geben. Das hieße: ein türkischstämmiger deutscher Außenminister, Cem Özdemir als Nachfolger von Joschka Fischer. Oder: ein molukkisch-stämmiger niederländischer Regierungschef. Oder eine algerisch-stämmige französische Außenministerin. Oder ein pakistanischer Engländer in Downing Street No. 10. Täte die alteuropäische Herrenriege und ihre weibliche Flankierung hier nicht gut daran, die kulturellen Unterschiede nicht im Sinne von Abgrenzung, sondern als Lernvorbild zu begreifen?

Andererseits schließt die Reduktion von Gleichheit auf das prinzipiell gleiche Maß an Freiheit nicht aus, dass diejenigen, die aus dem Leistungssystem herausfallen, absolut verarmen. Hier bietet das in einigen europäischen Staaten institutionalisierte Verständnis von Gleichheit, das sozialstaatlich organisierte Solidarität (noch!) einschließt, eher existenzielle Sicherheit für die Vielen. Die Frage ist nun, ob es diese beiden Gleichheitsverständnisse im Sinne einer praktischen politischen Option nur alternativ gibt oder ob es nicht möglich ist, die Gewährleistung existentieller Sicherheit mit einem radikalen Anspruch auf gleiche Freiheit zu verbinden. Konstruktionen kultureller Differenzen, wie Todd und andere sie vornehmen, verunmöglichen eine solche Perspektive weitgehend: Mit der Orientierung an Europa muss man den Anspruch auf eine radikal gleiche Freiheit aufgeben. Solange das gilt, sind Frauen und Minderheiten jeder Art gut beraten, das amerikanische Freiheitsversprechen als Waffe im Kampf gegen den alteuropäischen Konsens zu verwenden.

Wir können und müssen den Versuch wagen, die beiden unterschiedlichen Verständnisse von Freiheit und Gleichheit miteinander zu versöhnen. Ein demokratisches Europa wäre eine Zukunft, deren Einlösung sich sowohl vom gegenwärtig existierenden alten Europa als auch von den USA absetzen muss. Kulturelles und nationales Differenzgeschwätz hindert da nur und: Kastrationsängste gehören auf die Couch, nicht in die politische Arena.

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