Kontrolliert mich

Roman Ulrike Draesner erzählt von der Erkenntnis, die der Extremerfahrung entspringt
Ausgabe 41/2019
Gertrude Erle durchschwamm 1926 als erste Frau den Ärmelkanal. Auf diesem Bild sieht man sie beim Training im Jahr 1925
Gertrude Erle durchschwamm 1926 als erste Frau den Ärmelkanal. Auf diesem Bild sieht man sie beim Training im Jahr 1925

Foto: Topical Press Agency/Getty Images

Das Element Wasser hat seit der Ilias, der Odyssee oder Hemingwaynie aufgehört, eine literarische Hauptrolle zu spielen, kann ein Roman über einen Kanalschwimmer interessant sein? Er kann. Denn jene, die über Meere schrieben, sowie jene, die sie zu kolonialisieren und zu industrialisieren versuchten (und nicht selten erfolgreich dabei waren), waren bis auf wenige Ausnahmen Männer. Es macht also einen Unterschied, wenn eine Autorin sich des Themas annimmt.

Aber warum wählte Ulrike Drasener keine Frau als Hauptfigur? Gertrude Ederle zum Beispiel. Sie durchschwamm 1926 als erste Frau den Ärmelkanal. Stattdessen trainiert der 62-jährige Biochemiker Charles über ein Jahr im Hafen von Dover. Und weil ihm das Extremschwimmen in erster Linie zur Selbsterkenntnis dient und „ein erstaunlicher Prozentsatz der Kanalenthusiasten (…) über sechzig“ zählt, ein Alter, in dem „das Geld für die Vorbereitung, die Zeit“ vorhanden sein müssen, ist der Roman nicht zuletzt eine Kritik an den Bedingungen von Selbsterkenntnis, denn sie hat ihren Preis: das Training, das begleitende Schiff, Schiffskapitän Brendan – sie alle kosten etwas.

Es ist keine Midlifecrisis, aus der dieser Existenzialismus seinen Anfang nimmt. Dafür ist Charles schon zu alt. Sondern die erneute Liebesbeziehung seiner Ehefrau Maude mit Silas, Charles’ ehemaligem besten Freund seit Jugendjahren, inzwischen „härtester Konkurrent“. Charles lernt Maude und ihre ältere Schwester Abigail in den Siebzigern über Silas kennen. Silas geht anschließend mit Maude, und Charles geht mit Abigail, obwohl Charles Maude für die Begehrenswertere hält. Die Aufenthalte auf Sylt sind als eine Zeit innigen „Viererlebens“ konstelliert, bis zum Unfalltod Abigails, dem die Heirat von Charles und Maude folgt.

Die Geschichte dieses „amphibischen Abenteurers“ gründet auf einem invertierten Darwinismus. Eine Art Zäh-Weich-Dualismus. Charles’ Bereitschaft, Maude, die ihn vor die Entscheidung gestellt hat, und Brendan, der ihn bei Lebensgefahr ohne sein Einvernehmen aus dem Wasser ziehen kann, die Kontrolle über sein Leben zu überlassen, steht am Ende eines Evolutionsprozesses: Nicht auf den anfänglich zähen Charles, „zäher sogar als Silas“, kommt es an. Nachdem Maude „an seine Weichheit appelliert“ hat, wird er von der Feuchtigkeit buchstäblich „durchweicht“, ins Innere seiner selbst, er schwimmt in eine „dunkle, weiche Finsternis“ hinein. Nicht auf den Chemiker, dem „eine Welt ohne Beweise“ fremd ist, kommt es an, sondern auf den Mann, der die „philosophischste Minute des Meeres“ ankrault. Das Erkenntnisprinzip lautet: „Survival of the Softest.

Das Meer ist die Droge

Dass das poetische Potenzial des Extremschwimmens so lange übersehen wurde, verwundert. Das ist die Nische, die Ulrike Draesner für ihren Roman entdeckt hat. Denn eine der Folgen dieser Tätigkeit ist das Halluzinieren. Wenn der Schwimmer in seiner körperlichen Erschöpfung zu halluzinieren beginnt – und das tut Charles –, beginnt auch der Text gewissermaßen zu halluzinieren, was eine sehr natürliche Hinführung in einen poetischen Modus ist: Der Text – seine Autorin – braucht keine künstliche Droge, um Literarizität zu erreichen, wie einst Walter Benjamin für seine Drogenprotokolle. Exemplarisch dafür könnte die Drohnen-Szene stehen. Spät erst wird einem klar, dass es sich um eine Suche aus der Luft nach „illegalen Einwanderern“ handelt. Womit auch die Zeitgenossenschaft – Brexit, Meeresverschmutzung sowie Flucht und Vertreibung – des Romans fein und unaufdringlich behandelt wird.

Es ist ein Roman zur Genese von Selbsterkenntnis aus körperlichen Grenzerfahrungen heraus, in dem Erinnerungen und die existenziellen Geschehnisse mit den Fluten abwechseln und fixe (Selbst-)Erkenntnisse stets hinauszögern. Es sind, mit einer bekannten Beschreibung aus der Literaturgeschichte, „Umwege von dir zu dir“, „ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst ... eine Art Heimkehr“, wobei im Roman offenbleibt, in welcher Form sie sich vollzieht.

Info

Kanalschwimmer Ulrike Draesner Marebuchverlag 2019, 176 S., 20 €

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