Das Europäische Parlament wird künftig das Prozedere der EU-Regierungskonferenzen durch ein demokratischeres Verfahren ersetzen, weil die Parlamente (das europäische und die nationalen) die Mehrheit des Verfassungskonvents stellen. Ein beachtlicher Sieg für die Europäisierung der Demokratie. Aber das heißt auch, dass der Konvent mit allem, was er tut, das Neuland eines Kontinents betritt, der erst durch eine EU-Verfassung als neue Dimension der Demokratie erschlossen werden kann.
Man braucht nur an den klassischen Grundbegriffen der Staatslehre entlangzugehen, um die Ausmaße des entstehenden Kontinents zu begreifen. Anders als bei jeder anderen Verfassung ist das Staatsgebiet der EU grundsätzlich offen, weshalb 13 Beitrittskandidaten am Konvent teilne
am Konvent teilnehmen. Die Regierung der EU wird von Parlament, Kommission und Rat gemeinsam ausgeübt, weswegen sie im Unterschied zu jeder einzelstaatlichen Exekutive in ihrem Kern gesetzgebendes Handeln ist: Die Souveränität der Union besteht aus ihrer Legislative und - seit Einführung des Euro - aus ihrer Währungshoheit. Das Staatsvolk schließlich (die Unionsbürger) hat multinationalen Charakter, aber mit der Maßgabe, dass alle gleiche Rechte gegenüber den Unionsorganen besitzen. Jegliche Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität ist ausgeschlossen. Dass Schritte in diesem Neuland eines politischen Kontinents, den es so noch nie in der Geschichte gab, schwierig und tastend sein müssen, wird niemandem verborgen sein. An den Konvent werden schon deshalb höchste Ansprüche gestellt, weil das traditionelle, auf den einzelnen Staat fixierte Verfassungsrecht einer solchen Aufgabe kaum gewachsen ist. Bekanntlich halten es renommierte deutsche Staatsrechtler für unmöglich, eine Verfassung für die Union zu schreiben, weil ihr notwendige Merkmale von Staatlichkeit fehlen - ein einheitliches Staatsvolk zum Beispiel. Dass Elemente einer EU-Verfassung durch die Vertragstexte von Maastricht, Amsterdam und Nizza oder die Grundrechtscharta bereits vorliegen, bleibt dabei außer Betracht. Diese Schwierigkeiten und Bedenken werden durch einen Befund relativiert: Wenn etwas seit 1989 klar wurde, dann das aus seiner Antiquiertheit resultierende Versagen der nationalen Politik gegenüber allen Problemen, die mit dem Zusammenbruch des Kommunismus aufgeworfen sind. Das erste Versagen brachte die deutsche Vereinigung. Sie wurde zunächst durch den Helsinkiprozess, den 2+4-Vertrag und die Charta von Paris (*) als Problem europäischer Einigung behandelt. Kaum geriet der gesamte Prozess jedoch in die Mühlen der nationalen Politik - man denke an die Verfassungsfrage, das Asylrecht, die kulturelle Einheit -, da begann jener Verfall demokratischen Rechtsbewusstseins, der dem Neonazismus bis heute Auftrieb gibt. Die Folgen für die nationale Kultur hat die PISA-Studie der europäischen Öffentlichkeit gerade erst bescheinigt. Auch die Außenpolitik hat versagt, weil sie auf die Helsinkiprinzipien verzichtete und statt dessen auf Re-Nationalisierung setzte. Gibt es drastischere Beweise als das, was eine blinde Förderung des Separatismus in Mittel- und Südosteuropa und in der einstigen Sowjetunion an Abgrenzungspolitik, ethnischen Säuberungen bis hin zum Genozid ausgelöst hat? Heute wird den Kritikern immer wieder das Suggestivargument entgegengehalten: Hätten wir denn den Säuberungen und Völkermorden zuschauen sollen, statt ihnen mit militärischer Gewalt entgegenzutreten? Dabei ist das Dilemma dieser unsinnigen Alternative genau das, was an der Renationalisierung kritisiert wird. Man hätte Separatismus nicht durch eine Außenpolitik fördern dürfen, die in den Vielvölkerstaaten jeden zu jedermanns Feind machte. Ich sehe jedenfalls nicht, wie man auf der Ebene nationaler Politik mit der politischen Heuchelei des nationalistischen Revisionismus je fertig werden soll, ohne dessen Wurzeln durch ein ehrliches Ja zur Europäisierung von Demokratie zu beseitigen. Und drittens, als wohl aktuellstes Problem, der Verfall nationaler Kultur: Gefördert und exekutiert durch eine Politik (darf man sie überhaupt noch so nennen?), die auf den Zusammenbruch des kommunistischen Materialismus nicht anders zu reagieren weiß als durch die Proklamation des kapitalistischen Materialismus. Die Freiheit wird darauf reduziert, zwischen Konsumangeboten zu wählen. Der Markt degeneriert zum Schlachtfeld aggressiver Werbestrategien. Kunst wird zum Produkt der Kultur- und Freizeitindustrie. Religionen werden als Gegenstand einer Kult- und Devotionalien-, ja einer sogenannten "Sinnstiftungs"-Industrie behandelt. Kinder werden zu Produkten der Fortpflanzungsindustrie umfunktioniert, und diese nihilistische Barbarei wird auch noch als Fortschritt hin zu demokratischer Freiheit verkauft. Ich frage alle, die ein solches Urteil als unerlaubte Kulturkritik denunzieren, ob sie ernsthaft glauben, mit einem politisch handlungsunfähigen Europa sorgfältig abgegrenzter, einwanderungsgeschützter Vaterländer die Erosion der nationalen Kulturen Europas aufhalten zu können. Wenn etwas zu deren Schutz geschehen ist, dann doch durch die EU - mit ihrer Grundrechts- und Verbraucherschutzgesetzgebung, ihren Umweltschutzrichtlinien, mit Kulturprogrammen und mit dem Schutz des Urheberrechts bei der Digitalisierung von Informationstechniken. Insofern sollten sich alle im Klaren sein, was das Verfassungsprojekt der EU für eine Gesellschaft bedeutet, die ebenso vom Terrorismus bedroht ist wie von nationalistischem Größenwahn, der jenen Terrorismus, den er de facto fördert, zu bekämpfen vorgibt. Gewinnen kann in diesen heillosen Alternativen nur der Fundamentalismus, der so trefflich ins Konzept derer passt, die Globalisierung mit dem Faustrecht der Aufteilung in Gut und Böse fördern wollen. Aber es gibt eben nur die eine Welt, darum ist es lebenswichtig, dass die EU in ihrer Verfassung dieser Wahrheit gerecht wird. Der Konvent will öffentlich tagen. Bürger und Bürgerinnen sollten das nutzen, ihn mit ihren Forderungen zu konfrontieren. Die Grundrechtscharta gehört ebenso in die Verfassung wie der unionsweite Ausstieg aus der Kernenergie, wie die Erklärung der EU zur kern- und biologiewaffenfreien Zone und die Beseitigung aller Reste von Frauendiskriminierung. Über die Ergebnisse des Konvents sollte in einem EU-weiten Referendum entschieden werden. (*) Schlussdokument des OSZE-Gipfels vom November 1990