Kopftuch als Knoten

Türban Anmerkungen zum Kopftuchstreit in der Türkei

Es gibt wenig Themen, die es schaffen, heftige Kontroversen im politischen Alltag der Türkei auszulösen. Der Streit um die Aufhebung des Kopftuchverbots in den Universitäten ist eines. Das Bild vom "Türban" hat sich derart hartnäckig in den Köpfen der Türken festgesetzt, dass andere, akute Probleme des Landes (kollektiv) verdrängt werden. Die Debatte um das Kopftuchverbot an den türkischen Universitäten ist dabei nicht neu. Neu ist der Versuch, den Zankapfel durch Verfassungsänderungen zu legitimieren. Viele Beobachter in der Türkei sind der Meinung, dass es zu einem Durchbruch in der politischen Ordnung der Türkei kommen wird.

Die Beharrlichkeit und Ausdauer, mit der das Thema die politische Agenda der Türkei bestimmt, deutet auf ein tiefer liegendes Problem mit dem umstrittenen Stoffstück. Dabei bringt der von Slavoj Zizek bei Lacan ausgeliehene Begriff des Sinthome den krisenhaften Zusammenhang näher auf dem Punkt. Denn das Sinthome verweist im Gegenteil zum Symptom nicht auf etwas anderes, sondern auf sich selbst. Es bildet das Zentrum, jenen Knoten, in dem alle Fäden der vorherrschenden Strukturen, hier: Ideologien, zusammengehalten werden.

Mit anderen Worten ist das Sinthome der Kern des Symptoms, dessen Daseinsgrund überhaupt. Löst man diesen Knoten auf, so Zizek und Lacan, kommt es zum Einsturz. Wie fruchtbar es ist, diese Unterscheidung zu machen, kann man daran sehen, dass immer, wenn in der Türkei vom Kopftuchverbot die Rede ist, zwangsläufig weitere chronische Streitpunkte aufbrechen: die Mitgliedschaft in der EU, Korruption in der Politik, Arbeitslosigkeit, die Stellung der Frau, Menschenrechte, kulturelle Identität und Minderheitenrechte. Der gesellschaftliche Diskurs über den "Türban" birgt also das Potenzial für eine Reihe von Konflikten in sich, die durch einen Knoten zusammengehalten werden. Das Kopftuch ist der Knoten.

Der besondere Status des Kopftuchs in der Türkei heute verdankt sich dem Wiederaufwertungszwang des laizistischen Gedankens gegenüber der Religion. In einem Artikel über die so genannte Stasi-Kommission, die für den Gesetzesentwurf zum Verbot des Tragens ostentativ religiöser Symbole an französischen Schulen und öffentlichen Institutionen verantwortlich war, diskutierte der Kultursoziologe Etienne Balibar die aktuelle Bedeutung und Probleme der Laizität (laïcité) in Frankreich. Die gleiche Diskussion um das Kopftuch entflammte dort Anfang 2003.

Balibar machte darauf aufmerksam, dass es keinen Wesensunterschied zwischen dem Politischen und dem Religiösen gibt, sondern vielmehr eine geschichtlich gewachsene Differenz, die aus politischen Entscheidungen resultiert. So ist zu beobachten, dass die gegenwärtige Diskussion und die permanente Spannung um den "Türban" nichts anderes sind als der Versuch, eine klare Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Religiösen wiederherzustellen, die in den letzten Jahren verwischt worden ist. Das ist eigentlich merkwürdig. Denn der Laizismus wird in der Türkei seit 85 Jahren praktiziert. Aber es scheint ein Problem mit der Grenzziehung zu geben.

Die Gegner der Aufhebung des Kopftuchverbots haben große Sorge, dass sich eben die Aufhebung des Kopftuchverbots in den Universitäten bald auf die Schulen und andere Institutionen ausbreiten könnte. Diese Befürchtung ist nicht unbegründet, denn die islamischen Vereine machen inzwischen keinen Hehl mehr daraus, ihre Forderungen in allen Bereichen der Öffentlichkeit durchsetzen zu wollen. Diejenigen, die das Tragen des "Türban" nicht als freie persönliche Entscheidung, sondern als religiöse Pflicht betrachten, sind der Überzeugung, dass pubertierende Mädchen sich den Schleier anlegen, und Frauen, die in öffentlichen Institutionen arbeiten, ihre Kopftücher nicht ablegen sollten. Es scheint für sie keinen Mittelweg zu geben. Bei näherer Betrachtung lässt sich jedoch feststellen, dass kein Unterschied zwischen der Forderung nach einem Kopftuchverbot existiert, das sich aus einem innerreligiösen Verbot herleitet, und einem, das aus einer innerreligiösen Freigabe resultiert. Denn beide Forderungen unterwerfen das Politische den religiösen Regeln.

Immerhin gibt es ein paar Leute, die außerhalb der beiden verfeindeten Lager nach Lösungen suchen. Während der Diskussion um die Verfassungsänderungen hat eine Gruppe von Hochschullehrern eine Petition veröffentlicht, die beide Seiten dazu aufforderten, das Thema mit Vernunft zu behandeln. In ihrer Petition plädierten sie für eine Radikalisierung des Freiheits- und des Laizismusbegriffs, insofern sie davor warnten, die Frage nach dem Laizismus auf das Kopftuch zu reduzieren. In dem Text heißt es, dass die Forderung nach einer freien Kleiderordnung im Rahmen eines allgemeinen Demokratisierungsprogramms diskutiert werden müsse, das auch Freiheitsforderungen aus anderen Teilen der Gesellschaft berücksichtige.

Bei einem solchen Demokratisierungsprozess sollten folgende Themen den Vorrang bekommen: die Streichung des berüchtigten Paragrafen 301, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt; gesetzlicher Schutz gegen Unterdrückung und Ausschluss des "Anderen"; Aufhebung des Teilnahmezwangs am Religionsunterricht; Schutz akademischer Freiheiten; Gleichbehandlung von Kurden, Aleviten und Nicht-Muslimen; Verbesserung der Rechte in den Bereichen Arbeit, Bildung und Soziales.

In einer fortgeschrittenen Phase der französischen Revolution rief der Marquis de Sade einst: "Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt!" In diesem Sinn könnte man nach Freiheit Ausschau haltenden konservativen Islamisten und um Laizität kämpfenden Republikanern, nur eines raten: Türken, noch eine Anstrengung, wenn ihr Freiheit und Laizität wollt!

Özkan Agtas ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der Universität Ankara in der Fakultät für Politikwissenschaften.

Sevgi Gürez lehrt Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation an der Universität der Künste in Berlin.

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