Nein, sagt Kosta Bulatovic aus dem Kosovo, in Abwesenheit des Präsidenten, Herrn Slobodan Milosevic, könne er sich leider nicht als Zeuge verhören lassen. Das Tribunal aber - angefeuert von Ankläger Geoffrey Nice - scheint fest entschlossen, die Fortsetzung des Prozesses "in absentia" zu erproben. Also redet Richter Ian Bonomy dem Zeugen gut zu, der Angeklagte habe ihn doch bereits persönlich befragt, nicht wahr? Dann könne er doch jetzt dem Ankläger auch in Abwesenheit des Herrn Milosevic antworten, außerdem bekomme der in seiner Zelle sowieso alle Transkripte der Verhandlung und dazu eine Videoaufnahme in Technicolor! Könne der Zeuge einen vernünftigen Grund für seine Verweigerung nennen?
Der Befragte schüttelt weiter seinen greisen Kopf: "Meine Herren Richter", sagt er, "ich bin als Zeuge des Herrn Milosevic hierher gekommen - und wäre es möglich, in Abwesenheit des Angeklagten auszusagen, so hätte man das Verhör mit mir auch in Podgorica führen können, wo ich heute als Flüchtling lebe. Daher schlage ich vor, dass ich einen Tag oder zwei in meinem Hotel warte, bis sich mein (sic!) Präsident erholt hat, dann komme ich wieder. In seiner Abwesenheit aber - nein. Diese Schande kann ich vor meiner Familie und vor meinem Stamm nicht auf mich nehmen, das müssten die Herren Richter doch verstehen."
Ob dem Zeugen klar sei, welche Konsequenzen seine Verweigerung haben könne, fragt der Vorsitzende Richter Patrick Robinson. Bleibe er dabei, werde man ihn der Missachtung des Gerichts anklagen, und das könne eine Gefängnisstrafe nach sich ziehen. Er bleibe bei seinem Standpunkt, sagt der Zeuge. Und er bitte das hochgeehrte Gericht, sich nicht mit einer Anklage gegen ihn zu blamieren. Das Wort "Blamage" erklingt auf serbokroatisch auffallend hart. Dann erhebt Kosta Bulatovic seinen schweren Leib, greift nach seinen Krücken und schleppt sich mühsam aus dem Gerichtssaal.
Das geschah Ende April zu Beginn eines Verhandlungstages, an dem der Angeklagte ursprünglich teilnehmen wollte, doch vom Arzt unbedingte Ruhe verordnet bekam, da sein Blutdruck wieder einmal extrem angestiegen war. Pflichtverteidiger Steven Kay warnte daraufhin den Gerichtshof eindringlich, in Abwesenheit Milosevics zu verhandeln, das könne als schwerwiegender Verfahrensfehler geahndet werden. Im vergangenen Herbst hatte der Gerichtshof schon einmal versucht, dem Angeklagten gegen seinen Willen Pflichtverteidiger zuzuordnen. Die damaligen "Freunde des Gerichts", Steven Kay und Gillian Higgins, sollten die Befragung von Zeugen und die Präsentation der Verteidigung übernehmen, mit Rücksicht auf die chronischen Kreislaufbeschwerden Milosevics. Prompt wurden die Richter damit konfrontiert, dass Zeugen die Aussagen mehrheitlich ablehnten, was den Prozess erheblich verzögerte. Schließlich revidierte die Appellkommission des Haager Tribunals diese Entscheidung und gab dem Angeklagten sein Recht auf Selbstverteidigung zurück. Allerdings wurden mit diesem Beschluss auch die Pflichtverteidiger in einer "Stand-by"-Funktion belassen, damit sie notfalls die Verteidigung des Angeklagten übernehmen können. Genau darauf beriefen sich nun die Richter Bonomy, Robinson und Kwon, um auch ohne Slobodan Milosevic tagen zu können.
In den Flüchtlingscamps inszeniert
Der Angeklagte hat zuletzt mit seinen Zeugen die Anklage mehrfach erschüttert, unter anderem mit den Aussagen der drei Angehörigen des notärztlichen Rettungsdienstes von Skopje. Mehrere Wochen lang hatten sie im Frühjahr 1999 während der Bombardierung Jugoslawiens am Grenzort Blace Tausende von Flüchtlingen aus dem Kosovo ärztlich versorgt. Dobre Aleksovski, der Chef des Notdienstes, legt dem Gerichtshof die Tagesprotokolle vor, in denen seinerzeit sämtliche Patienten und Hilfsleistungen erfasst wurden. Diesen Dokumenten ist zu entnehmen, dass sich von den Flüchtlingen, hauptsächlich Kosovo-Albaner, niemand wegen Schusswunden, Hämatomen oder anderen Folgen körperlicher Gewalt behandeln lassen musste. Dies - so Aleksovski - habe ihn an der Darstellung zweifeln lassen, die Albaner seien mit brutaler Gewalt aus dem Kosovo vertrieben worden. Weiter sei ihm aufgefallen, alle Flüchtlinge hätten zunächst behauptet, auf der Flucht vor den Bombardierungen zu sein. Erst als man sie in den Camps "Stenkovac 1" und "Stenkovac 2" unterbrachte, hätten sie plötzlich durchweg davon gesprochen, von serbischen Soldaten und Polizisten aus ihren Heimatgemeinden getrieben worden zu sein. Nach seinem Eindruck sahen die ankommenden Flüchtlinge aber nicht wie Menschen in Not aus, die Hals über Kopf fliehen mussten. Er habe viel Erfahrung in Notgebieten und könne das sehen, meinte Aleksovski.
Nach ihm sagen der Rettungswagenfahrer Goran Stojcic und der Assistenzarzt Mirko Babic aus: Sie seien rund um die Uhr mit der Versorgung von Flüchtlingen beauftragt gewesen, von denen manche Waffen trugen, um ihren Willen durchzusetzen. Ein israelisches Rettungsteam habe sich zurückgezogen, nachdem es den Versuch gegeben habe, eine Ärztin zu vergewaltigen. Es seien unter den Flüchtlingen auch viele Roma gewesen, die allerdings von den albanischen Flüchtlingen dermaßen schikaniert worden seien, dass man sie in einem gesonderten Lager habe unterbringen müssen. Alle drei Zeugen berichten zudem, aus unmittelbarer Nähe beobachtet zu haben, wie Fernsehteams vom US-Kanal CNN und von der BBC ihre Aufnahmen in den Flüchtlingscamps inszeniert hätten. Einige Jugendliche seien sogar mit Tragbahren des makedonischen Notdienstes versehen worden, um sie für diese Szenen auszurüsten.
Als nächster Zeuge der Verteidigung tritt Dietmar Hartwig auf, einst Leiter der europäischen Beobachtermission im Kosovo (ECMM). Weder für ihn noch einen seiner Mitarbeiter sei nachvollziehbar gewesen, was die Medien damals über die Lage in der Provinz berichteten. Mehrmals habe er persönlich Korrespondentenberichte über serbische Gräuel nachgeprüft und von November 1998 bis März 1999, als die Luftangriffe der NATO begannen, täglich Berichte für die EU verfasst. Dazu musste er unablässig die Region bereisen und Kontakte zu regionalem Führungspersonal auf serbischer und auf albanischer Seite unterhalten. Nirgends - so Hartwig - habe er Vertreibungen seitens der Serben wahrgenommen oder etwas darüber gehört. Auch keiner der zeitweise 40 Mitarbeiter seiner Mission habe Misshandlungen der Zivilbevölkerung registriert.
Diese Darstellung widerspricht dem Anfang 1999 - am Vorabend der NATO-Luftangriffe auf Jugoslawien - verbreiteten Bild über die Lage im Kosovo, auf das sich die Anklage beruft. Beim Zeugen Hartwig handelt es sich um einen in mehreren internationalen Missionen erfahrenen Offizier der Bundeswehr, der im Übrigen mit seinen Aussagen keineswegs allein steht. Sie stimmen weitgehend mit denen von Roland Keith überein, der bereits am 14. September 2004, seinerzeit als dritter Zeuge der Verteidigung, gehört wurde. Dieser kanadische Offizier war zur gleichen Zeit wie Hartwig Leiter einer Außenstelle der OSZE-Beobachtermission im Kosovo.
Serbiens Militärgerichtsbarkeit
Von einiger Relevanz für die Anklage ist auch die Aussage von General Radomir Gojovic, Richter und später Generalstaatsanwalt, der im Zeugenstand die Militärgerichtsbarkeit Jugoslawiens während des Bürgerkrieges schildert. So habe die politische wie auch militärische Führung nichts unterlassen, die Angehörigen der Streitkräfte über ihre Pflichten im Umgang mit der Zivilbevölkerung und mit Gefangenen aufzuklären. Eindringlich seien die Soldaten auch auf die strafrechtlichen Folgen einer Verletzung der einschlägigen völkerrechtlichen Bestimmungen aufmerksam gemacht worden.
Gojovic präsentiert dem Gericht eine Liste von 6.708 Anklagen, die seinerzeit gegen Angehörige der Streitkräfte erhoben wurden, darunter 172 Offiziere und 394 Unteroffiziere. Die Reihe der Straftaten reicht von Diebstahl über Vergewaltigung bis Mord.
Trocken und sachlich beschreibt Gojovic einige der schwersten Verbrechen an Zivilisten und Gefangenen, wobei er auch die Namen von Opfern und Tätern erwähnt. Daraus wird später die Meldung etlicher Nachrichtenagenturen, zu Lasten Milosevics seien endlich die Verbrechen seiner Armee im Kosovo zugegeben worden. Nur hat der Angeklagte bereits mehrfach eingeräumt, dass es im Kosovo kriminelle Übergriffe von Angehörigen der Armee und Polizei gegeben habe, und erklärt: Dafür gab es keinen Freibrief - begangene Verbrechen seien von der Militärjustiz geahndet worden. Er sei als Präsident Jugoslawiens für die Verbrechen nur dann verantwortlich zu machen, sollte er nichts dagegen unternommen und die Täter nicht verfolgt haben.
Schwer erschüttert wird in der augenblicklichen Phase des Prozesses nicht zuletzt Punkt 66a der Anklage, das angebliche Massaker an 45 unbewaffneten Zivilisten in Racak am 15. Januar 1999. Es gab bereits einen wichtigen Zeugen der Anklage, der das Bild vom Mord an unbeteiligten Bürgern in Frage stellte: Shukri Buja, der Kommandant der in Racak stationierten UÇK-Einheit, der am 6. Juni 2002 ausführlich vom erbitterten Gefecht seiner Einheit mit der serbischen Polizei und voll Stolz auch von der schweren Bewaffnung seiner Leute sprach. Nun kommen die Aussagen von Danica Marinkovic, Untersuchungsrichterin des Bezirksgerichts in Pristina, und des Gerichtsmediziners Professor Slavisa Dobricanin hinzu.
Ihre Version lässt einmal mehr das Verhalten merkwürdig erscheinen, das die damalige Führung der OSZE-Beobachtermission im Kosovo an den Tag legte - sie bestand aus dem US-Amerikaner William Walker und seinem Stellvertreter General Drewienkiewicz -, die beide bereits als Zeugen der Anklage gehört wurden. So hatte Drewienkiewicz am 17. Januar 1999 versucht, Marinkovic und Dobricanin an der Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages zu hindern, an Ort und Stelle des Geschehens, in Racak, eine Untersuchung durchzuführen. Als die beiden in Begleitung von einigen Polizisten dorthin aufbrachen, drohte Drewienkiewicz, sie vor das Haager Tribunal zu bringen. Erstaunlich, welche Funktion diesem Gericht mit einer solchen Drohung zugemutet wurde. Und William Walker tat nichts - so Marinkovic und Dobricanin jetzt bei ihrer Befragung - sie vor dem wiederholten Beschuss durch die UÇK zu schützen.
Angesichts all dieser Aussagen könnte die Versuchung noch zunehmen, die Entlastungszeugen im Milosevic-Prozess unter Druck zu setzen. Die Fortführung des Verfahrens "in absentia" des Angeklagten bietet dazu durchaus Möglichkeiten.
Unmissverständlich kommt dies im Urteil gegen den eingangs erwähnten Kosta Bulatovic zum Ausdruck, der Mitte Mai wegen "ernsthafter Missachtung des Tribunals" tatsächlich zu vier Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt wurde. Mit diesem Spruch, so die Richter, sollten auch künftige Zeugen davor gewarnt werden, die Autorität der Strafkammer zu missachten.
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