Das Genie an sich ist eine faszinierende Erscheinung. Nicht recht greifbar, manchmal nahe dem Wahnsinn zeigt es dem „Normalen“, was es neben seiner schnöden Wirklichkeit noch gibt. Kunst zum Beispiel, die verwirrt, begeistert, ratlos macht und gleichzeitig in ihren Bann zieht.
Groß war daher die Lust auf Genietheorien, doch im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert sank das Interesse deutlich. In einer Zeit, in der Wohlstand und Toleranz in seltener Einheit wuchsen, brauchte man keine Wunder-Künstler-Geschichten mehr. Es reichte, eine zeitgemäße Kunst zu machen – und die Aufmerksamkeit kam fast von allein. Auch Klinikaufenthalte von Künstlern waren kein Grund, Kunst und Krankheit miteinander in Beziehung zu setzen. Das war nicht zulet
icht zuletzt ein Ergebnis des Schocks, den die Nazis mit ihrer Verfemung und Stigmatisierung von allem Modernen, Zeitgenössischen, Experimentellen als „entartet“ angerichtet hatten. Und dann waren da noch die mantraartig wiederholten und oft missverstandenen Sätze von Beuys und Warhol, die suggerierten, dass ein jeder Künstler sein könne. Die Vorstellung vom Genie als Ausnahmeerscheinung ging verloren.Diese Zeit ist ganz offenbar vorbei und wird abgelöst durch eine „Rückkehr der Biografien“, wie sie Hans Magnus Enzensberger schon 2002 im Kursbuch konstatierte. Dem war seit 1989 eine erste Flut von erzählten Lebensgeschichten vorausgegangen. Es folgte eine lange, bis heute nicht abgerissene Reihe von Biografien, die auch wieder den Künstler und sein Leben in den Blick nehmen. Dabei entstehen zeitgleich seriöse Biografien und irrwitzige Mutmaßungen. Besonders Vincent van Gogh und Leonardo da Vinci mussten in den vergangenen Jahren immer wieder für Spekulationen über Krankheiten und sexuelle Orientierungen herhalten. Unterhaltend ist das durchaus, erkenntnisfördernd nur am Rande.Freiwillig in die PsychiatrieDoch wo die individuelle Lebensgeschichte eine Rolle spielt, kommt auch das Genie wieder vor. Das war in der Vergangenheit allerdings oft krank, so dass die Zürcher Kunsthistorikerin Bettina Gockel ihr Buch über die Künstlerlegenden der Moderne mit Recht Die Pathologisierung des Künstlers nennt.Zitatenreich und in hochkomplexer Wissenschaftssprache (leider), fächert Gockel die historische Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn, Künstler und Krankheit, Kreativität und Sensibilität auf. Dabei geht es um die verschiedenen Denk- und Heilschulen, die ausführlich vorgestellt werden und natürlich um Hölderlin und van Gogh, die kranken Künstler-Genies an sich, aber auch um Nervosität und Epilepsie, Syphilis und Schizophrenie, die allesamt einen Einfluss auf neue Formen und neue Kunstwerke gehabt haben sollen.Der Grad zwischen Künstlersein und Krankheit ist allerdings sehr schmal, wie Gockel am Beispiel von Ernst Ludwig Kirchner zeigt. Kirchner (1880-1938), offenbar vor allem daran interessiert, nicht wieder zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, begab sich zeitweise freiwillig in die Hände der Psychiater. Dass er dort richtig war, scheint sein Selbstmord 20 Jahre später zu belegen. Bettina Gockel sieht das Zusammenspiel von Kunst und Krankheit allerdings etwas anders: „Erst mit seinem Tod konnten die formelhaften Projektionen seiner bürgerlichen Mäzene, in ihm das ‚Schicksal‘ van Goghs, dessen Irrewerden und Selbstmord wiederholt zu sehen, die Faszination des Psychiaters für den außergewöhnlichen Menschen und die daran letztlich orientierte Fiktionalisierung der eigenen Person Kirchners ineinander fallen.“Leider enden Gockels Betrachtungen bei Kirchner und Paul Klee. Das ist bedauerlich, da die Faszination für das „kranke Genie“ im Zuge der modernen Subjektivierung eine Renaissance erlebt, wie aktuelle Ausstellungen zeigen. Eben ging Weltenwandler. Die Kunst der Outsider in Frankfurt (Schirn Kunsthalle) mit großem Erfolg und einem ausverkauften Katalog zu Ende, da eröffnet im Schweizer Kunstmuseum des Kantons Thurgau Weltensammler. Internationale Aussenseiterkunst der Gegenwart und das Stadthaus Ulm widmet sich dem Künstler und Psychiatriepatienten Karl Hans Janke (1909-1988). Janke war 40 Jahre in einer Anstalt und entwarf 40 Jahre Raumschiffe, Sonnenenergieantriebe, Flugzeuge, Pumpen, Triebwerke, die er in geradezu poetischen, technischen Zeichnungen festhielt.Nun muss man nicht jede Häufung thematisch verwandter Ausstellungen gleich zum Trend erklären. Doch in dieser Lust an der von Jean Dubuffet „Art brut“ genannten Kunst spiegelt sich nicht nur eine vorübergehende Begeisterung für das selten oder nie Gesehene. Vielmehr zeigt sie, wie tief die Vorstellung im zeitgenössischen Kunstbetrachter verwurzelt ist, künstlerisches Schaffen sei mit einem unbewussten Schöpfungsakt verbunden, könne aber auch einem (künstlich herbeigeführten) Trancezustand oder einer Krankheit entspringen.Ob es Obsessionen sind, die die Künstler antreiben oder doch vor allem Kalkül, ist in der zeitgenössischen Kunst noch schwer zu sagen. Auffällig ist jedoch, dass momentan besonders der Künstler beachtet wird, dessen Kunst aus den Tiefen des Künstlergenies zu kommen scheint. Eine Kunst, die auf das Unbewusste auch des Betrachters zielt: Die assoziativ mäandernden, düster grummelnden Installationen von Jonathan Meese ebenso wie die Rätselbilder des Leipziger Malers Neo Rauch, die wilden Installationen von John Bock oder die geheimnisvoll-perfekten Fotoinszenierungen von Gregory Crewdson. Ganz zu schweigen von der Lust des Rheydter Künstlers Gregor Schneider, Räume in Räume zu bauen und Urängste des Betrachters von Eingeschlossensein und Orientierungslosigkeit heraufzubeschwören.Platte InterpretationenDie Zeit, in der Künstlersein und Krankheit gleichgesetzt wurden, wenn auch nur in Form von Überempfindlichkeit, ist zwar noch nicht wieder gekommen. Bettina Gockel warnt allerdings vor einseitigen Interpretationen: „Wie das Stichwort einer ,Rückkehr der Biografien‘ nahe legt, ist in dem neu entfachten Interesse an der Biografie eine revisionistische Dynamik und Rückkehr zur Empirie enthalten. (...) Allerdings muss es dazu eine Alternative geben, die das theoretische Potenzial kulturwissenschaftlicher Forschung nicht über Bord wirft. Statt sich im Sinne einer Wende dem steten Hin und Her zwischen Abgesang und Wiederkehr hinzugeben, sollte vielmehr im Bewusstsein strukturalistischer und konstruktivistischer Einsichten der Blick auf historische Fakten und Praktiken, Objekte und Personen neu eröffnet werden.“Wie recht Gockel hat, wenn sie eine mehrdimensionale Betrachtung von Künstler und Kunstwerk fordert, zeigt ein neues Büchlein des Freiburger Psychoanalytikers Tilmann Moser. Moser, der Bilder als „Spiegel der Seele“ versteht, kommt mit Freud und der eigenen Lust am Spekulieren über verdrängte Sexualität immer wieder zu platten, eindimensionalen Interpretationen: Bei Munch gebe es nur einsame, ausgestoßene Menschen, bei Max Ernst Schmerz und Visionen, bei René Magritte seelische Zerrissenheit.Kunst ohne das Wissen um den Künstler und seine Zeit verstehen zu wollen, funktioniert nicht, sie allein aus der individuellen Entwicklung heraus zu erklären, reicht ebenfalls nicht. Auch nicht bei psychisch kranken Künstlern. Denn eben jener Karl Hans Janke, dem jetzt in Ulm eine Ausstellung gewidmet ist, war zwar vielleicht „krank“, aber eben auch von der Weltraumfaszination seiner Zeit infiziert. Verblüffende Parallelen zwischen Janke und dem Raketenentwickler Wernher von Braun, nicht zuletzt ihre Begeisterung für den „Vater der russischen Raketenforschung“, Konstantin Ziolkowski sind die Folge.
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