A
Anfang Am Anfang jeder Krawattenbetrachtung steht – wie so häufig – der Phallus. Kulturwissenschaftler, Psychologen und Anthropologen haben uns das längst erklärt: Die um den Hals gebundene Krawatte ist nichts anderes als die Repräsentanz des männlichen Geschlechts. Deswegen für jeden nur eine Krawatte. Nur an Fasching tragen Verrückte auch mal zwei übereinander (➝ Dekadenz).
Mit der Krawatte zeigt der Herr sein bestes Stück zur besten Sendezeit und ohne jede Scham einer breiten Öffentlichkeit, und niemand wendet den Blick ab. Da Frauen kein adäquates Kleidungsstück besitzen, ist die Krawatte skrupelloses Symbol männlicher Dominanz, das es zu zerschlagen gilt. Bis dahin – zurück zum Fasching – wird der Mann lediglich in der Weiberfastnacht seiner Männlichkeit beraubt, wenn ihm die Dame in einem rauschhaften Akt den Schlips mit der Schere durchtrennt. Timon Karl Kaleyta
C
Clip-Krawatte Krawatte im Reißwolf, Schlips im Eimer, Binder im Mixer: Es gibt Situationen, in denen sich das Halsband der Herrenetikette als alltagsuntauglich erweist. Es droht die Strangulation. Um Unfälle durch Krawatten zu vermeiden, tragen einige Maschinen mit Einzug entsprechende Verbotsschilder mit rot durchgestrichenem Accessoire. Aus Selbstschutzgründen trägt der Herr im Sicherheitsgewerbe und bei der Polizei statt einer geschlungenen eine Clip-Krawatte. Die ist fertig gebunden und wird mit einer Klemme am Hemdkragen befestigt: passt, wackelt, bekommt Luft.
Wird man im Handgemenge des Jobs am Binder gepackt, löst der sich einfach ab, die Gefahr des Gewürgtwerdens ist gebannt und der Gegner guckt verdutzt. Die Clip-Krawatte taugt nicht nur als Berufsbekleidung. Sie ist auch ungemein praktisch für alle, die keinen Knoten binden können. Statt sich mit Windsor & Co. herumschlagen zu müssen (➝ Komplex), haben sie den Kopf frei für die wirklich wichtigen Dinge. Tobias Prüwer
D
Dekadenz Der Teufel trägt Krawatte – so oder ähnlich hat die Geistlichkeit gedacht, als sie nach der Islamischen Revolution 1979 in Iran die Bekleidungsvorschriften Schritt für Schritt verschärfte. Wollte der Schah das Land vorher im rasenden Tempo verwestlichen, so wollten die neuen religiösen Machthaber nach seinem Sturz das Gegenteil – den Einfluss der USA, des „großen Satans“, und der Kultur des „dekadenten Westens“ zurückdrängen. Das hieß: Für Frauen wurde der Tschador obligatorisch, für Männer ein krawattenfreier Stehkragen und ein (gestutzter) Bart. Zumindest im Staatsdienst. Der frühere Präsident Mahmud Ahmadinedschad – der einzige Nicht-Geistliche bisher in diesem Amt – trug übrigens statt einem (westlichen) Sakko gern auch grau-beige Jacken, um sich einen kleinbürgerlichen Anstrich zu geben und bei seinen Wählern zu punkten.
Doch zurück zur Krawatte: In den vergangenen Jahren wurde das Krawatten-verbot gelockert. Liberale Iraner hat das eh nicht gekümmert (➝ Gender-Bending). Auch nach der Islamischen Revolution haben sie etwa auf Hochzeitsfeiern das „westlich-dekadente“ Kleidungsstück getragen. Vereinzelt taten sie es sogar auf der Straße. Vielleicht auch als Ausdruck ihres Protestes. Behrang Samsami
F
Fotografie Fotokunst mit Krawatten: skurril? Tatsächlich haben sich viele Fotokünstlerinnen und Fotokünstler mit dem Thema befasst. Walter Pfeiffer etwa, dessen wildes Werk die Botschaften, welche eine Krawatte und ihr Träger senden, grandios eingefangen hat. Sogar eine hochkarätige Sammlung von Krawatten-Fotos gibt es. Stefan Thull sammelt solche seit Jahren. Seine Sammlung umfasst heute weit über 200 Exponate (➝ Zeiteinteilung): eine Leidenschaft, die Thull mit niemand anderem teilt. Den Beginn markierte eine Fotografie von Paul Outerbridge – seitdem folgt Thull einer Spur, die der Historiker Helmut Gernsheim so beschrieben hat: „Man sollte nur etwas sammeln, was andere noch nicht sammeln. Wenn du etwas sammelst, wofür sich niemand außer dir interessiert, gibt es nur eine Alternative: Entweder du bist verrückt oder alle anderen.“ Marc Peschke
G
Gauland Auftritt alter Jägersmann, simsaladimbam basaladusaladim. Der zog sich ne Krawatte an, simsaladimbam basaladusaladim. Und kläfft und jault: „Wir werden sie jagen! Rotte und Rotwild sollen sich warm anziehen!“ „Wuff!“, antwortet der safrangelbe Setter, und sabbert vom Seidenschlips, die Rute alert erigiert (➝ Anfang). So streifen sie durch den Eichen- und Buchenwald. „Ich bin ein lust’ger Jägersknecht, schieß auch recht; schieß mir einen gold’nen Specht“, singt er fröhlich. Aber ach! Die Schlips-Schlinge, eng um den Hals getragen, verfängt sich beim Pirschen im Unterholz. Hurra, hussa! Trara, trara, da war der Jäger nicht mehr da. Waidmannsheil! Marlen Hobrack
Gender-Bending Was gibt es nicht für legendäre Krawattenträgerinnen! Unvergessen Marlene Dietrich, die große Frau im weißen Herrenanzug, mit Hut und schwarzem Binder. Gender-Bending in den 1940ern. Die Diva konnte es sich erlauben. Den Sex-Appeal steigerte der strenge Schlips ins Unermessliche. Auch Diane Keaton liebt Krawatten. Modemagazine drehen der Stadtneurotikerin einen Strick daraus. Zu Unrecht, braucht doch jede einen Signature-Look. Der Schlips erfüllt je nach Frau eine eigene Funktion: An der Dietrich unterstrich er die Dominanz, bei Keaton das Chaplineske. Patti Smith musste den Binder auf dem Cover für ihr Album Horses gar nicht schließen. Der schwarze Strich setzte auch so ein Ausrufezeichen unter die androgyne Anmutung. Skandal! Kann die Krawatte heute noch schocken? Nur dann, wenn sie ein Mann (➝ Gauland) trägt. Marlen Hobrack
K
Komplex Sprösslinge vor dem Abiball, Bräutigame am Tag der Hochzeit, Berufsanfänger vor der Firmenpräsentation – in den Kommentarspalten unter Krawattenknoten-Videos zeigt sich pure männliche Verzweiflung. Das Binden der Krawatte ist eine traumatische Erfahrung, die dadurch befeuert wird, dass ein falscher Schlag und eine schlecht gelegte Schlaufe den sofortigen Tod durch Strangulation bedeuten können. Wer Glück hat, hütet noch den Fetzen im Schrank, den Papa vor Jahren zur Kommunion gebunden hat. Alle anderen sitzen zu Abermillionen vor dem Laptop und weinen, während der dreitagebärtige Superheld (➝ Kroate) im Video den Stoff über den Kragen, das Ende durch die Pocket und den Nippel durch die Lasche zieht, als könnte er die Quantentheorie mit einem Wachsmalstift erklären.
Glaubt man den Video-Kommentaren, gibt es einen nicht unerheblichen Teil von Männern, die die Klimaerwärmung aufhalten und den Weltfrieden herstellen könnten, wenn sie nicht so verdammt beschäftigt damit wären, einen doppelten Windsor zu lernen. So überzeugt man keinen Schwiegervater. Simon Schaffhöfer
Kroate Wie die Made im Speck lebt er. Er muss zwar Eselsohren tragen, schließlich ist er „Schalknarr“. Man behandelt ihn aber zuvorkommend, denn aufgrund seiner persönlichen Nähe zum Machthaber könnte er beizeiten von Nutzen sein. Also lässt man es ihm an nichts fehlen: Guter rheinischer Wein und Doppelbier gehören trotz Kriegswirren – wir sprechen vom Dreißigjährigen Krieg – zu den Spezialitäten, die der Siplicius Simplicissimus, pikaresker Held von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens gleichnamigem Roman, am Gouverneurshof in Hanau genießt. Doch mir nichts, dir nichts findet sich unser Held von Kroaten geraubt.
Kroaten? Als kroatische Reiter oder Crabaten bezeichnete man damals eine leichte Infanterie, die vor allem aus südosteuropäischen Söldnern bestand. Wie erging es unserem Simplicius bei diesen Reitern? Hier „kam mir alles widerwärtig vor, die hanauischen Schleckerbisslein hatten sich in schwarzes grobes Brot und mager Rindfleisch verändert; Wein und Bier war mir zu Wasser geworden“. Der Arme! Dass diese garstigen Mordbrenner ein Halstuch à la cravate, also „nach kroatischer Art“ trugen (➝ Skinny Tie), erwähnt Grimmelshausen nicht. Mladen Gladić
L
Länge Im US-Vorwahlkampf des vergangenen Jahres gab es eine kuriose Szene. Marco Rubio spielte auf Donald Trumps kleine Hände an, mit der Bemerkung, man wisse ja, was man über Männer mit kleinen Händen sage. Prompt garantierte Trump, da unten gebe es kein Problem. Für einen Angeber wie ihn, der permanent zeigen will, was er hat, ist die Länge an sich offensichtlich eine besonders sinnstiftende Größe. Dazu passen auch seine Krawatten. Keiner hat größere als Donald Trump – breit, lang und extrem anfällig für Windböen schmiegen sie sich an seinen Bauch und weisen schrill – mal blau, mal rot – auf den Schritt des US-Präsidenten. So sind die Schlipse selbst zu Stars geworden. Standesgemäß haben „Trump’s Ties“ einen eigenen Twitter-Account, der Bilder zeigt, auf denen Trumps Krawatte Steve Bannon nachflattert oder unter einen Rasenmäher gerät (➝ Fotografie). Alles recht lustig, doch warum macht der Mann das?
Soll es ein Stinkefinger in Richtung Establishment sein? Geht es wirklich um seine Männlichkeit? Der Schriftsteller Tom Wolfe äußerte kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift Das Magazin eine andere Theorie: „Ich glaube, er will seinen Bauch überdecken. Trump mag seinen Bauch nicht. Alles muss makellos sein in der Familie Trump. Auch das sagt viel aus, finde ich.“ Der Bauch kriegt keinen Twitter-Account. Benjamin Knödler
S
Skinny Tie Nach der Skinny Jeans kommt die Skinny Tie, die extraschmale Krawatte, das Accessoir der jungen Aufsteiger. Sie sagt: Ich beherrsche die Regeln, darum kann ich mit ihnen spielen. Christian Lindner trägt sie gern. Sofern er überhaupt eine Krawatte trägt. Während Donald Trump (➝ Länge) auf Übergröße setzt, trägt Lindner extradünn auf. Trumps Gehänge soll ein Symbol von Macht, Dominanz und Stärke sein. Lindners Auftreten lässt diese Insignien der Macht als Anachronismus erscheinen.
Protzen ist ein Zeichen der Schwäche, Understatement eines der Stärke. Lindners freie Brust scheint zu sagen: Das habe ich nicht nötig. Sein Mut zur Lücke ist ein Symbol dafür, wie viel Sicherheit er aus der Alleinherrschaft innerhalb der Partei zieht. Das war nicht immer so. Auch Lindner hat anfangs noch dick aufgetragen. Mittlerweile muss er sich dem Dresscode im Politzirkus nicht mehr anpassen. Er hat es geschafft, selbst einen neuen Stil zu etablieren. Während andere Politiker die Parteifarben um den Hals tragen, sieht man Lindner nie mit gelber Krawatte. Er steht nicht für seine Partei. Seine Partei steht für ihn. Marlene Brey
Z
Zeiteinteilung Jedes Jahr fahre ich mit meinem Bruder und meinem Vater für ein paar Tage nach Neapel. Schon Wochen vorher diskutieren wir: Wo gehen wir essen? Die Positionen sind klar verteilt, doch die unterschiedlichen Vorlieben werden jedes Jahr wieder erörtert. Was wir nicht diskutieren: Jedes Jahr begleiten wir meinen Vater zu E. Marinella. Ein winziger Laden auf der Piazza Vittoria. Jedes Jahr kauft man Vater sich in dem Traditionsgeschäft eine Krawatte. Jedes Jahr darf ich das Muster aussuchen. Da mein Vater nur Schwarz, Dunkelblau oder Grau trägt, ist die Auswahl beschränkt. Wie oft wir in Neapel waren, lässt sich an der Anzahl der Krawatten meines Vaters ablesen. Johanna Montanari
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