Trommeln in der Nacht. Plötzlich höre ich sie wieder. Sie rufen sanft, aus naher Ferne, doch wie ein drängender, nagender Rhythmus aus dem Untergrund. Sie mahnen. Ich bin schon viel zu lange in der Stadt geblieben. Der Sonnenhimmel schlägt langsam ins späte Orangerosa. Schon tropft der klebrige Schleim der Linden auf das Kopfsteinpflaster. Fluserige Samenbällchen ziehen durch die Luft. Ganz Kreuzberg scheint ein riesiges Aquarium aus flüssiger Heißluft, durch das kleine weiße Quallen schweben. Ein lindgrünes Pulver bedeckt die Straßen, säumt in Schlieren die Rinnsteine. Träge wabern sie auf, wenn man in die weiche Masse tritt. Die Hitze drückt noch abends. Ein süßlicher Duft hängt schwer in der Luft. Was h
s habe ich hier in der Siedlung zu suchen? In Steinhäusern? Unter Geranienblütlern und Balkonlemuren? Ich muss hinauf. Der Stamm hat sich auf die Spitze des Heimatbergs zurückgezogen. Man darf nicht zu lange fehlen.Simone will unbedingt mitkommen. Bergstämme kennt sie ja aus der Schweiz. Wir suchen also den kleinen Weg hinauf zu der verfallenen Brauerei. Schlagartig ändert sich alles, wenn man kurz vor dem Eisentor durch das Schattenloch schlüpft. Undurchdringliches Dunkel breitet sich aus. Der Straßenlärm vom Mehringdamm ist nur noch ein fernes Brummen. Jetzt beschleicht die Neugierige doch Angst, als wir in der fallenden Nacht die Serpentinen hinauf kriechen. "Lass mich nicht zurück" faucht sie nervös, als wir den aufgeplatzten Asphalt entlang stolperten. Finstere Ruhe umgibt uns. Wir ziehen uns an Gebüschen nach oben. Links neben uns gähnt ein Abgrund. Der Bezirk ist arm. Er hat den künstlichen Krater mit rostigen Gittern umzäunt. So entdeckt niemand, dass wir in der Schlucht der Rhododendren unsere Toten begraben. Vom anderen Ende des Viktoriaparks blöken Ziegen. Wir haben alles erstklassig getarnt. Tagsüber streicheln die Eltern im Viktoriapark mit ihren Kleinen im Kinderzoo die kauenden Lämmer. Mitternachts werden zwei von ihnen hinauf ins Golgatha gebracht, der Schlachtstelle hinter Weinreben. Von der Wiese davor hat man den besten Überblick und kann die Kreuzbergstrasse kontrollieren - der Graben, der uns von der Stadt trennt. Immer stehen zwei Wächter am Beginn des Wasserfalls, der direkt auf die Straße führt. Noch ist er trocken. Aber bald kann wieder Blut in den kleinen See neben den Neptun aus grüner Bronze stürzen.Atemlos treten wir aus dem Gebüsch. Bevor wir zu der Wiese mit den sieben Lagerfeuern gehen, muss man sich einmal auf dem Gipfel verneigen. Rostgrün reckt sich der vielzackige Zeigefinger der Völkerschlacht in den Nachthimmel. Er erinnert an die Schlacht gegen Napoleon. Unser Stamm hat seinen Beitrag geleistet. Vor den Stufen von Schinkels Spitze von 1813 liegt uns Berlin zu Füßen. Für uns ist seine neue Republik nur ein buntes Legoland. Der gläserne Vulkan des Sony-Centers wechselt die Farbe wie ein Chamäleon, kocht erst in grün dann plötzlich in violett über. Wir fürchten auch die Globalisierung nicht. Man hebt die Arme gegen den Himmel. In der einen Hand die angenagte Lämmerkeule. Mit der anderen kann man einfach alles umbauen. Oder den grünen Würfel des Daimler-Turms zwischen zwei Fingerspitzen zerquetschen. Gut, dass das alte Welthandelszentrum der DDR nur einen Turm hat. Gerade nähern sich zwei Flieger von Osten. Nur wir hier oben sind unerreichbar für ihre Angriffe. Im Dunkeln warten wir auf unsere Chance.Plötzlich höre ich Simone aufschreien. Sie steht eine Wiese tiefer vor dem Denkmal der Gefallenen. Ein Kreuz für die Kämpfer des 17. Juni trennt das untere Spiel- und die große Stammeswiese. Sie zeigt auf den Hundeskalp an dem großen Holzkreuz. Ein einziges Mal, als wir einen Ausfall nach Osten gewagt haben, um den Stämmen auf der großen Allee im Osten zu Hilfe zu kommen, sind wir vernichtend geschlagen worden. Einmal im Sommer gedenken wir dieser Niederlage. Das Blut der Geschichte unterscheidet uns von den Ahnungslosen. Deshalb wird eine Abordnung von ein paar Skins aus dem Görlitzer Park, wo sie die Türken nicht mehr in der großen Sandkuhle dulden, abgewiesen. Beleidigt schütteln die Echsenjungs mit den silbernen Hundekettchen um den Hals die stacheligen Kämme. Ihre spindeldürren Mädchen mit den Schatten unter den Augen schlucken. Sie drehen ab zu der miesen Frittenbude neben der stillgelegten Latrine und müssen mit bleichen Würstchen vorlieb nehmen. Bei uns braten die Lämmer. Alle strömen mit Wein und Fleisch den geheimnisvollen Klängen entgegen. Doch der Trommler ist im Gebüsch verborgen. Einer wirbelt durch das Grün mit Flammen an den Händen. Simone tanzt mit einem verzerrten Lachen um das Feuer der Dritten Gruppe. Sie haben ihr die Plastiksachen ausgezogen und sie in graugrüne Lumpen gewickelt. Ich rede noch stundenlang auf die Naunyner ein. Süß steigt der gebrannte Cannabis in den Himmel. Da trommelt der Tag.