Kreuzberger Touristenbashing

Kulturkommentar In Berlin-Kreuzberg haben ausgerechnet die Grünen ein neues Feindbild entdeckt: Touristen. Doch die sind nur der Sündenbock

Glaubt man dem Tagesspiegel, der Taz und der Berliner Abendschau (RBB), haben ausgerechnet die Grünen, die den multikulturellen Alternativbezirk Berlin-Kreuzberg bislang als ihre traditionelle Regierungsadresse betrachten durften, im Kiez ein neues „Feindbild“ aufgerichtet, gegen das seit vergangenem Monat auf hinterhältige Weise gehetzt wird – „die Touristen“. Seit die Bezirksvertreter der Partei im März rund 200 Einwohner unter dem Motto „Hilfe, die Touris kommen“ zu einer Diskussionsveranstaltung über die Belästigung durch lärmende und betrunkene Stadtgäste versammelt haben, ist die Empörung groß. Der Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf warnt bereits vor einer „neuen Tourismusfeindlichkeit“, und Florian Schärdel, Mitglied im Stadt­planungsausschuss von Friedrichshain-Kreuzberg und selbst ein Grüner, versucht seine Klientel zu beruhigen: „Nicht jeder, der Bier trinkt und in Ihren Hausflur pinkelt, ist ein Tourist.“

Natürlich hat Schärdel recht. Genau darin, dass in Kreuzberg die Einheimischen ebenso gern in Hausflure pinkeln wie die Touristen, liegt das Problem, mit dem die Anwohner sich konfrontiert sehen. Überhaupt gehen die selbst ernannten „Wutbürger“ fehl, wenn sie den Anlass ihrer Verärgerung in dekadenzkritischer Absicht mit „gleichgeschalteten Cocktailbars“ in Verbindung bringen, zum „Kampf gegen Rollkoffer“ aufrufen oder nach Blockwartmanier „Das ist nicht mehr unser Kiez“ brüllen.

Das Gegenteil ist der Fall: Zum Kiez­charakter des Bezirks hat schon immer die Verwechslung von Liberalität und Indifferenz, von Kosmopolitismus und Multikulti gehört. Wer die Polizei ruft, bloß weil sich nachts um halb drei eine Gruppe aggressiver Jugendlicher mit dröhnendem Kofferradio vor der Haustür aufgebaut hat, der galt hier seit je als prospektiver Faschist, und Migranten wurden stets eher als abwechslungsreiche Farbtupfer neben Punks und Obdachlosen denn als gleichberechtigte Bürger willkommen geheißen.

Genüsslich im eigenen Saft schmoren

Deshalb ist die Unterstellung, dass dem Bezirk nun die Verspießerung drohe, ja gar unter dem Deckmantel der „Touristifizierungskritik“ eine neue Fremdenfeindlichkeit heraufziehe, Selbstbetrug. Die „Fremden“, gegen die in Kreuzberg angeblich gehetzt wird, sind weder Migranten noch Pauschalreisegäste, sondern von autochthonen Kreuzbergern nicht zu unterscheiden. Sie repräsentieren nicht die lockende Ferne, sondern sind Bestandteil der Selbstbespiegelung, die im Alter­nativmilieu den kulturellen Horizont absteckt. Weil man glaubt, die Welt vor der Haustür zu haben, schmort man so genüsslich im eigenen Saft wie nirgendwo sonst in der Hauptstadt.

Die „Touristen“ bringen eben nicht den Kosmopolitismus ins Kiezmilieu, sondern konfrontieren die Einwohner mit der ekligen Kehrseite ihrer eigenen Lebensweise. In Hausflure zu pinkeln, Flaschen zu zerschlagen oder im Park mit Musik Landnahme zu betreiben – all das sind Gesten neandertalesker Reviermarkierung, die mit Duldung des Fremden, Offenheit und Achtung vor den Nebenmenschen so wenig zu tun haben wie kulturalistische Selbstgettoisierung mit Urbanität – sehr viel aber mit dem „Kiez“. Wer dessen Lebens­gefühl teilen will, darf sich nicht über Stehpinkler und Freiluftpartys beklagen. Andernfalls sollte man sich nach einer Wohnung in einer Gegend umsehen, in der es sich freier atmen lässt. So etwas soll es geben – sogar in Berlin.

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