Paläoanthropologie Bei der Suche nach den Vorfahren des Homo sapiens streiten sich die Wissenschaftler nicht nur um Interpretationen der Knochen, sondern auch um den Zugang zu den versteinerten Kostbarkeiten - mit allen Mitteln
Vom Paradies auf Erden hat jeder so seine eigenen Begriffe. Für Paläoanthropologen ist es ein karges, steiniges Ödland. Hier und da trotzt ein Busch der sengenden Hitze, die Temperatur untertags steigt auf über 40 Grad, der Rekord liegt bei 55 Grad.
Die Afar-Region in Äthiopien ist eine riesige Landsenke, die sich auf über 144.000 Quadratkilometern vom Roten Meer im Norden bis nach Kenia erstreckt. Während ihr Niveau zum Teil unter dem Meeresspiegel liegt, schießen im Westen und Osten über 3000 Meter hohe Gebirgsketten in die Höhe. Hier im ostafrikanischen Grabenbruch, wo zwei Kontinentalplatten aneinander reiben, treten an den Hängen die übereinanderliegenden Sedimentschichten zu Tage.
Von einigen hunderttausend bis zu mehreren Mil
s zu mehreren Millionen Jahren ist hier geologisch die gesamte Vorzeit des Menschen vertreten. Die berühmte Lucy, ein 3,2 Millionen Jahre altes, teilweise erhaltenes Skelett eines Australopithecus und viele andere hominide Fossile wurden hier gefunden.An vermeintlich fossilhaltigen Orten - die stets mitreisenden Geologen helfen bei der Datierung - treten sich die Paläoanthropologen immer wieder gegenseitig auf die Füße und manchmal auch gegen das Schienbein. Im Februar 2000 bricht zwischen Yohannes Haile-Selassie und Horst Seidler ein heftiger Streit aus. Der äthiopische Anthropologe, Doktorand an der kalifornischen Universität von Berkeley, beschuldigt den Wiener Humanbiologen, einen vielversprechenden Grabungsort namens Galili usurpiert und ihn mit Hilfe der äthiopischen Behörden vertrieben zu haben.Unbarmherzige FossilienjagdHaile-Selassie hat bereits 1998 mit Ausgrabungen in der Gegend von Galili begonnen. Als er im Februar 2000 das Camp des Seidler-Teams 200 Meter von der Stelle entfernt entdeckt, an der er zwei Jahre zuvor mehrere Australopithecuszähne fand, ist der Fall für ihn klar. Reifenspuren, Hinweise der Bewohner, eine gerade erschienene Publikation von ihm oder versteckte Hinweise aus der für Grabungen zuständigen Behörde CRCCH (Center for Research and Conservation of Cultural Heritage) in Addis Abeba müssen Seidler hierher geführt haben. Wie sonst sollte er in jenem riesigen Gebiet ausgerechnet auf Galili gekommen sein? Seidler schwört aber Stein und Bein, nichts von Haile-Selassies Grabungen gewusst zu haben.Hauptstreitpunkt ist nun, auf welches Gebiet sich die jeweiligen Grabungslizenzen erstrecken. Der äthiopische Kultusminister setzt schließlich eine Kommission zur Klärung ein, die im Juni 2000 entscheidet, dass das Seidler-Team nicht auf Haile-Selassies Gebiet geforscht habe. Haile-Selassie will dies nicht gelten lassen. Die Kommission sei voreingenommen gewesen, das Ministerium habe seinen Einspruch dagegen ignoriert.Die Auseinandersetzung zwischen dem Äthiopier und dem Österreicher nimmt sehr schnell auch eine andere Dimension an. Einem einheimischen Forscher durch Tricks und Machenschaften eine Grabungsstelle abzunehmen, sei Neokolonialismus pur, empört sich Haile-Selassie. Schlimmer noch, Seidler versuche aus ihrer Auseinandersetzung eine Kontroverse zwischen Seidler und Tim White, seinem Doktorvater in Berkeley, zu machen, also zwischen zwei Weißen.Seidler verwahrt sich gegen Vorwürfe dieser Art, muss aber einräumen, dass bei seiner ersten Grabungstour im Jahre 2000 kein Äthiopier dabei gewesen sei. Damals habe er noch nicht über die entsprechenden Kontakte verfügt, rechtfertigt er sich. Nun spricht sich Seidler dafür aus, "Ausbildung und Forschung endlich in Äthiopien selbst auch institutionell zu verankern". Sein Opponent Tim White vertritt die selbe Position."Natürlich brüsten sich alle westlichen Forscher damit, den einheimischen Forschern zu helfen", zeigt sich der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert Proctor wenig verwundert. "In der Praxis sieht es dann oft anders aus. Dabei ist es besonders wichtig, einheimische Forscher einzubinden. Denn das wird die Anzahl der Interpretationen erhöhen und auch die Motivation vor Ort, mehr zu forschen."Laut Proctor gibt es noch immer einen subtilen Rassismus, der besagt, dass Afrikaner gut im Aufspüren der Fossilien, aber weniger gut bei deren Interpretation seien. Denn obwohl gemäß der "East-Side-Story" die Wiege der Menschheit in Ostafrika stand, dominieren nach wie vor weiße Paläoanthropologen die Disziplin - und geraten sich dabei regelmäßig in die Haare. Um nur zwei weitere Beispiele für eskalierende Konflikte zu nennen: Im März 2000 wird Martin Pickford in Kenia auf offenem Feld verhaftet, weil seine Grabungsbewilligung angeblich annulliert worden war. Nach fünf Tagen wird er wieder freigelassen. Ende 2000 kann er dann der erstaunten Weltöffentlichkeit den "Millenium Man", den mit angeblich sechs Millionen Jahren ältesten Hominiden präsentieren.Pickford vermutet Richard Leakey als Drahtzieher der Verhaftung und klagt nun auf Entschädigung. Leakey ist der Sohn von Louis und Mary Leakey (wie Pickford englischstämmige Kenianer), die bereits in den 1930er Jahren mit Ausgrabungen in Kenia begannen und eine höchst einflussreiche Anthropologen-Dynastie begründeten. Wer hier die Wahrheit sagt, trauen sich nicht einmal Experten zu sagen. Zur Zeit versuchen es die Gerichte herauszufinden.Wie aus einem Abenteuerroman nimmt sich die Geschichte des US-Geologen Jon Kalb aus, der in den Siebzigerjahren die Afar-Region in Äthiopien mitentdeckte und 1978 ausgewiesen wurde. Kalb macht dafür Lucy-Entdecker Don Johansen verantwortlich, der durch geschickt lancierte Vorwürfe, Kalb sei ein CIA-Agent, seine Karriere zerstört habe. Im Gegenzug verbreitet Kalb nun, Johanson sei jeden Abend bekifft gewesen und habe sich mit Prositutierten vergnügt.Woher kommen wir?Zwar gehören auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Streitigkeiten mit zum Geschäft, aber an die Intensität der Paläoanthropologie kommen sie nicht heran. Leserbriefe in Fachzeitschriften, gespickt mit Anschuldigungen, Schreiduelle auf Fachtagungen, Freundschaften, die in erbitterte Feindschaften umschlagen - all dies gehört zum Knochengräberalltag. Verleumdungen bis hin zur Kriminalisierung der Opponenten sind keine Seltenheit, wie die Beispiele Pickford und Kalb zeigen. Für Seidler ist die Anthropologie ein Schlachtfeld: "Die Aggression kann bis zur Vernichtung gehen. Weshalb gerade wir besonders aggressiv sind, weiß ich nicht."Warum verwandeln sich hochgebildete und zivilisierte Wissenschaftler in notorische und unversöhnliche Streithähne? Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Sie liegen zum einen, erklärt Robert Proctor, im besonderen Forschungsgegenstand begründet, der kulturell enorm aufgeladen ist: "Wir versuchen die Genesis neu erzählen. Woher kommen wir? Ab wann ist der Mensch ein Mensch? Die Fragen nach der Entstehung des Bewusstseins und der Sprache hängen alle damit zusammen, und niemand konnte sie bisher befriedigend beantworten."Es geht also um die letzten Fragen und folglich interessiert sich nicht nur die Fachöffentlichkeit für die Fossilienjagd. Ein neuer Fund garantiert nicht nur eine Publikation in den angesehensten Fachjournalen, sondern verhilft auch zu einem Artikel auf den Titelseiten der Tageszeitungen. In Kenia, Tansania und Äthiopien werden die Fossilien im Stile der britischen Kronjuwelen wie nationale Schätze aufbewahrt und bewacht.Je älter die Unterkieferknochen und Eckzähne datiert werden, desto besser. Folglich rangeln Paläoanthropologen wie Pickford, Seidler und Haile-Selassie vor allem um den obersten Eintrag des Stammbaums, dort wo zum ersten Mal von einem Hominiden gesprochen werden kann.Knappheit der RessourcenDiese hochkompetitive Situation wirkt sich auch auf die Ergebnisse der Paläoanthropologie aus. Pro Jahr wird mehr als eine neue Unterart von Hominiden beschrieben. Der Ardipithecus ramidus kadabba, wie Haile-Selassie seinen im Juli in nature publizierten Fund taufte, ist hier nur das letzte Beispiel. "All die neuen Funde führen dazu, dass der Stammbaum der Hominiden eine völlig neue Form erhält", sagt Proctor, der aber auch die Eitelkeit der Forscher für die stets komplexer werdende Ahnenreihe des Menschen mitverantwortlich macht. Welcher Paläoanthropologe wollte sich nicht mit seinem Fund verewigen?Wenn der Wettlauf mit der Zeit und gegen die Konkurrenz auch symptomatisch ist, etwa für die Biotechnologie, so ist Paläoanthropologie doch eine ganz besondere Wissenschaft. Sie stellt ihre Gegenstände ja nicht selbst im Reagenzglas her, sondern muss sie zuerst finden. "Und das kann freilich nicht ewig so weiter gehen, weil ja nur eine bestimmte Anzahl von Fossilien im Boden steckt", skizziert Proctor.In diesem Kampf um knappe und nicht erneuerbare Ressourcen ist die Diskreditierung und Ausgrenzung von Kollegen die logische Folge. Für Tim White ist das "Ökosystem" der Paläoanthropologie aus dem Gleichgewicht geraten. All zu viele mediengeile, aber schlecht ausgebildete Forscher stürzten sich auf die immer weniger werdenden Fossilien. Dies ist nicht zuletzt auf den "Emporkömmling" Seidler gemünzt, den White einmal als "bloßen Computertomographietechniker" bezeichnet hat.Horst Seidler, der sich Anfang der neunziger Jahre mit der computertomographischen Untersuchung des Eismannes Ötzi einen Namen gemacht hat, bestreitet hingegen, dass es zu wenige Fossilien gibt: "Die Region in Äthiopien allein ist so unendlich groß, dass sie noch mindestens 100 oder 200 internationale Teams verträgt. Ein Gebiet von 100 Quadratkilometer ordentlich zu bearbeiten, ist eine Aufgabe für mehrere Jahre für ein großes interdisziplinäres Team."Seidler sieht in Whites Vorstoß den unlauteren "Versuch einer Gruppe, über alles die Hand drüber zu halten und die anderen nicht an den Futtertrog zu lassen". Die These von der Knappheit der Ressourcen ist also selbst zum Streitobjekt geworden. Scheint eine désinformation professionnelle zu sein.
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