Krise auf dem Fest

Theatertreffen (1) Das Theatertreffen in Berlin eröffnet mit einer programmatischen Inszenierung von Horvaths "Kasimir und Karoline". Und einem ziemlich langen Telefongespräch

Mit Ödön von Horvarths „Kasimir und Karoline“ ist am Wochenende in Berlin das 47. Theatertreffen eröffnet worden. In den Theatertreffen-Blog trägt sich erstmals der Intendant der Festspiele, Joachim Sartorius, höchstpersönlich ein und sieben junge Kulturjournalisten berichten bis zum 24. Mai im Netz multimedial vom Geschehen. Insgesamt kommt das Programm verjüngt daher. Überdurchschnittlich viele Gegenwartsstücke sind zu sehen und einige Produktionen, die als internationale Koproduktion zustande gekommen sind und als Thema dominiert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Auswirkungen der ökonomischen Krise.

Theater der Gegenwart

Der Auftakt ist programmatisch: Horvath stellt in seinem Volksstück aus dem Jahr 1932 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise die ökonomischen und erotischen Abhängigkeiten in einer Gruppe von Menschen auf dem Münchner Oktoberfest zur Schau. Kasimir (Markus John), gestern als Chauffeur „abgebaut“, ist nicht nach Amüsement zumute. Seine lebenslustige Braut Karoline (Angelika Richter) wird am Ende mit einem anderen gehen. „Automatisch“ werde sie ihn nun verlassen, vermutet er. Gekränkt lotet Karoline die Angebote zum sozialen Aufstieg aus, die sich ihr auf dem Rummel bieten. Hin- und hergerissen zwischen strategischem Handeln und Intuition reden die Figuren gegen Automatismen an, bringen ihre Menschlichkeit, ihre moralischen Vorstellungen in Stellung. Der niederländische Regisseur Johan Simons zeigt in seiner Interpretation, dass ihnen die Sprache nicht gehört. Und schon gar nicht gehören sie sich selbst. Der Chef hat im Zweifel das letzte Wort und deshalb muss der Zuschneider Schürzinger (Jan-Peter Kampwirth), auch wenn er daran verzweifelt, seine neue Flamme Karoline umgehend an den lüsternen Kommerzialrat Rauch (Michael Wittenborn) zu einer Spritztour im Cabriolet ausleihen. Und darf dafür eine Beförderung erwarten.

Mit avanciertem Softpop (Paul Koek), einem Gerüstturm auf der Rückseite der Fahrgeräte (Bert Neumann) und Retro-Kostümen (Nina von Mechow) hat Simons das Stück zurückhaltend aktualisiert. Die Kommentare der Figuren zur Vermarktung ihrer Körper und Gefühle stehen an diesem elegischen Abend als traurige Ausrufezeichen im Raum. Ebenfalls aus dem Jahr 1932 stammt Hans Falladas Roman Kleiner Mann, was nun?, der in einer Fassung und Inszenierung von Luk Perceval ebenfalls im Haus der Festspiele zu sehen ist.

Die Gegenwartsstücke, die in den kommenden zwei Wochen auf dem Treffen zu sehen sein werden, handeln ausnahmslos vom Menschen im Strudel der ökonomischen Krise: Diebe von Dea Loher (Regie: Andreas Kriegenburg), Liebe und Geld von Dennis Kelly (Regie: Stephan Kimmig), Der goldene Drache von Roland Schimmelpfennig (in der Regie des Autors) und Elfriede Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns (Regie: Nicolas Stemann). Christoph Marthalers Produktion Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie wird in einem Hangar auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof gespielt; darin geht es um die Stilllegung von Börsenmenschen. Die Kölner Intendantin Karin Beier ist mit ihrer Theaterfassung des neorealistischen Filmklassikers von Ettore Scola aus dem Jahr 1976 angereist, Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen.

Internationale Produktionen

Zu den international produzierten Arbeiten, die in Berlin zu sehen sind, gehört die Musicalproduktion der New Yorker Off-Gruppe Nature Theater of Oklahoma, Life and Times – Episode 1, die vom Burgtheater in Wien kommt. Textgrundlage bildet ein 20-stündiges Telefongespräch mit Kristin Worrall, das eine standardisierte amerikanische Mittelstandsbiografie enthüllt, die ausschließlich gesungen wird. So reizvoll dieses Verfahren auf den ersten Blick sein mag, so durchschaubar und langatmig gerät es über drei Stunden, die von der ersten Kindheitserinnerung gerade bis zu den Erlebnissen aus der dritten Klasse reichen: weil alles austauschbar ist, ist es bald auch unendlich banal. Das Schauspielhaus Graz zeigt eine ungarische Variante von Peter Handkes Die Stunde da wir nichts voneinander wussten. Für diese Produktion wurden Viktor Bodó und acht Schauspieler seiner Budapester Szputnyik Shipping Company engagiert.

So führt das Theatertreffen erstmals die Auseinandersetzung mit einem relativ neuen Phänomen. Denn bei allem Stolz auf die einmaligen Bedingungen für Theaterschaffende, wie sie in der „Kulturnation Deutschland“ – so der Titel der Abschlussdiskussion – noch vorhanden sind, gibt es Innovationsbedarf. Beweglichkeit ist gefragt, Kooperationen über Ländergrenzen hinaus, wenn es darauf ankommt, Publikum und Politik die demokratische Dimension des Mediums in Erinnerung zu rufen. Hortensia Völckers, die Leiterin der Bundeskulturstiftung, aus deren Mitteln das Theatertreffen zu großen Teilen finanziert wird, wies bei der Pressekonferenz zur Eröffnung darauf hin, dass das deutsche Theatersystem angesichts der zu erwartenden desaströsen Haushaltslagen der Kommunen nur dann in seiner jetzigen Form einigermaßen zu erhalten sei, wenn die Kultur vom Status der freiwilligen Leistung der Länder in einen verfassungsmäßig sichereren Hafen überführt werde. Auf zum Theatertreffen, so lange es noch geht


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