Krise bitte!

Linksbündig Wie sehr doch der neuen BRD die alte DDR fehlt

Die politische Landschaft scheint von Beben überzogen und dem Bürgerkrieg nah. Die Regierung bringt mehr Chaos in die Ordnung als umgekehrt, das Parlament soll machtlos sein, der Wohlstand ist gefährdet, der Sozialstaat ist schuld oder umgekehrt. Zum Beleg der Krise werden historische Analogien bemüht, jeweilige Finalzustände, der Weimarer Republik, der Deutschen Demokratischen. Die Verfassung wird in Frage gestellt, das parlamentarische System, Sozialgesetz, Steuer. Nur eins nicht, die Produktions- und Eigentumsverhältnisse. In der Welt drittstärkster Wirtschaftsmacht (immer noch Wachstum, wenn auch nur das eine Prozent) wird um Krisen-Verständnis gerungen. Etwas scheint sich aufzutun, dessen Überwindung, seltsam, kommunistisches Soll mit kapitalistischem Ist auf einen Nenner bringt: der Klassengegensatz bricht auf, peinliche, vernarbt geglaubte Wunde. Da kann keine Mitte mehr sein.

Es geht bei dem doch noch um anderes. Der aktuelle Notvergleich der Bundesrepublik mit der aufgelösten DDR zeigt vor allem anderen etwas, das auf der Oberfläche heiß beredet wird, doch tiefer greift: mit dem 9. November 1989 ging nicht nur der ostdeutschen Republik die Luft aus. Wie sehr die westdeutsche auf Vergleich gebaut war, zeigt sich auch. Angenommen, die Bürger (Angestellte? Arbeitslose? Unternehmer?) gingen auf die Barrikaden (gegen wen?), angenommen, Bürger demonstrierten alle Montage nach Einbruch der Dunkelheit vor den Hauseingängen der Entscheidungsträger, angenommen, sie erreichten ihre Ziele (welche?), angenommen, die Regierung träte zurück, was passiert dann? Freie Wahlen? Umkehr der Eigentumsverhältnisse?

Wo die Tragödie des Sozialismus in der Trennung zwischen Macht und Wissen bestand, zwischen (utopischem) Entwurf und Umsetzung, formt sich die Tragödie des Kapitalismus aus der Synthese von Wissen und Macht zu Besitz. Wenn öffentliche Redner die Auferstehung der DDR im BRD-System an die Wandtafel malen, löst das treffsicher Gemurmel aus wie ein Furz in Gesellschaft. Keiner Gegenrede wert, wenn nicht tatsächlich reformträchtiges Potenzial da unterschlagen würde. Uwe Johnson hat (1970) das im Versuch eine Mentalität zu erklären benannt: Es war "mehr als ein Land, mehr als Heimat und biographische Gegend. Der Begriff Vaterland ... ist hier nicht fern, gestützt durch die Profiltiefe der Prägung, die ein junger Mensch in der DDR erfahren hat". Die Profiltiefe, aus der die eigentümliche Mentalität (übrigens die "einer Art DDR-Bürger in der Bundesrepublik") erwuchs, war tief in Eigentums- und Produktionsverhältnissen begründet. Wer in der DDR aufwuchs, wuchs in der Behauptung eines solidarischen Gefüges auf. Wenigem hielt es stand, aber das Wenige war nicht genug, den Entwurf des Gemeinwesens über den Haufen zu werfen. Die DDR war die unvorteilhaft umgesetzte Alternative, wirtschaftlich hatte sie gar nichts zu melden. Sie hatte etwas für jeden, von allem zu wenig und an Vormundschaft zu viel. Doch der soziale Gleichklang ist als Modell nicht erledigt.

Niemand sollte Mentalität unterschätzen, sie ist durch Generationen an Zukunftsentwürfe gebunden, die gelebt werden wollen. Soll niemand erwarten, eine (noch vorhandene) Mentalität, die unvermittelt ihrer Grenzen ledig steht, kaufen zu können, sie wird sich undankbar erweisen. Die beste DDR hat nur fünf Tage, eine Arbeitswoche lang, vom Tag geballter Meinungsäußerung und Hoffnung bis zu dem der Maueröffnung, vom 4. bis 9. November 1989 gedauert. Da ist etwas verpasst worden, das auch die ersten gesamtdeutschen Klone, eben als "Zonenkinder" an der Kulturbörse zu finden, nicht wettmachen werden. Ob die Ostdeutschen sich als Avantgarde durchsetzen, hängt wohl weniger von ihrer unfreiwillig zunehmenden Freizeit ab, sondern eher von der Organisation dieser selbstvernachlässigten Klientel zur, fachmännisch gesprochen, Sonderwirtschaftszone Ost. Barrikaden wären in der lediglich als Transitraum vorgesehenen Trasse Richtung Osten, wo es expandieren soll, sinnvoll, hier können Zölle eingefahren werden. Bekanntlich sind in den Osten Deutschlands rund 1,5 Billionen DM gepumpt worden: zur Abwicklung, zur Aufforstung, zur Ruhigstellung. "Wohlstandsverwahrlosung" hieß das auf die Wahlerfolge der PDS im letzten Jahr gemünzte Stichwort einer im Anfang verhungerten Ost-Debatte. Dazu wird es auch dieses und im nächsten Jahr nicht kommen. Ohne Gewalt bewegt sich nichts, ohne Gewalt lassen sich die Verhältnisse nicht ändern, darum mehr Krise, bitte.

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