Kritik am Blick

Ausdrucksforschung Jörg Becker untersucht in „Spiegelungen“ Möglichkeiten für das Schreiben eines Wörterbuchs visueller Begriffe
Ausgabe 41/2017
Spiegelungen als filmischer Ausdruck können viel bedeuten: ein Zeichen für totale Kontrolle oder Schizophrenie
Spiegelungen als filmischer Ausdruck können viel bedeuten: ein Zeichen für totale Kontrolle oder Schizophrenie

Foto: Maurice Richards/Hulton Archive/Getty Images

Wörter kann man im Lexikon nachschlagen, Filmbilder nicht. Der Filmemacher Harun Farocki wollte das ändern und verfolgte ab 1995 dazu ein Projekt als „Archiv filmischer Ausdrücke“. Ein Vokabular visueller Begriffe sollte so begründet werden, damit wiederkehrende Handlungsmotive wie Willkommensszenen, Flugzeugstarts oder Abschiede beschrieben und verschlagwortet werden könnten. Farocki widmete der Idee drei Filme.

Jörg Becker arbeitete an diesen ersten Einträgen in ein fiktives Wörterbuch filmischer Ausdrücke mit dem Regisseur zusammen. 2014 verstarb Farocki. Nun spinnt Becker die gemeinsame Motivrecherche in Textform weiter. Genauer: die Spiegelungen, wie sein gerade veröffentlichtes Buch in der von den beiden Kinematheks-Mitarbeitern Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen herausgegebenen FiLit-Reihe im Verbrecher-Verlag heißt. Der Untertitel: Variationen einer Metapher. Sein Anspruch: Material für ein Lexikon der Filmbilder zu liefern, das stets erweitert werden soll.

Die Filme für seine Untersuchung hat der Historiker und Publizist nach eigenen Interessen ausgewählt. Beginnend bei Max Linders Komödie Seven Years Bad Luck von 1921 landet Becker nach 33 Kapiteln im Jahr 2015, wo er mit Stephen Frears’ Film The Program endet, der die Geschichte des Dopingfalls um den Radprofi Lance Armstrong erzählt.

Becker erzählt filmisch, die Abfolge der Kapitel erinnert an das Montageprinzip des Kinos. Und Becker schneidet hart: Ohne Ein- oder Überleitung wird die Leserin von einem Filmbeispiel in das nächste geworfen. Derart entsteht eine Reihung von nur scheinbar nicht zusammenhängenden Filmsequenzen, die sich so miteinander vergleichen lassen. Becker fasst zusammen und kontextualisiert, so dass man fürs Verständnis nicht alle Filme gesehen haben muss. Aus wenigen Sekunden generiert Becker ganze Textblöcke. Immer geht es von der Beschreibung einer Handlung aus, die sich dann in (philosophische) Betrachtungen entwickelt und so vom Individuellen aufs Gesellschaftliche schließt. Nach der Beschreibung einer Spiegelszene bei Linder, in der dem Hausherrn sein Abbild vom Küchenchef nur vorgegaukelt wird, um zu verschleiern, dass der Spiegel kaputt ist, kommt er so über Sigmund Freud zu dem Schluss: „Szenen wie diese veranschaulichen die beunruhigende Möglichkeit, dass das Abbild unerkannt Vorbild sein könnte, welches das Urbild unbemerkt zu einem Abbild degradiert, das sich nur als Urbild vorkommt.“

Spiegelungen übt auf subtile Art Kritik am gewohnten Blick. Beckers genaue Wahrnehmungen werfen die Leserin darauf zurück, die einstudierte Perspektive auf die visuelle Welt zu hinterfragen. Er zeigt, wie unterschiedlich Bilder zu deuten sind: „Sein Blick stechend, auf sich / durch sich / in sich schauend, als müsse er etwas ergründen.“ Und macht deutlich, wie sehr Sprache die Vorstellungen färbt, die Beschreibungen in den Köpfen hervorrufen. Genau wie das Regisseure wie Max Ophüls, Luchino Visconti oder Christian Petzold mit ihrer Bildsprache tun.

Bereits minimale Regungen weiß Becker wie im Kapitel zu Varieté von E. A. Dupont detailliert zu beschreiben: „Mit gesenkten Lidern steht Huller da, den inneren Aufruhr zu verbergen unter höllischen Mühen, bis er, die Augen zu Schlitzen verengt wie ein verwundetes Tier, aus der Höhle seiner Zurückgenommenheit emportaucht und aggressiv-suchende Blicke zur Seite wirft.“

Spiegelungen als filmischer Ausdruck können viel bedeuten: von Selbstvergessenheit bis zum Zeichen für totale Kontrolle oder Schizophrenie. In jedem Fall spiegeln sie etwas, das sonst nicht sichtbar wird. Und enthüllen Tatsachen, die oft bis zum Ende unausgesprochen bleiben. Nach Becker haftet den Spiegelszenen immer eine unauflösbare Rätselhaftigkeit an. Folglich erfordern sie die Einbildungskraft der Zuschauerin. Und der Leserin: Denn das Buch ist mehr als eine Materialsammlung für ein fiktives Lexikon. Dank der erfrischend kurzweiligen Schnitte und seiner dynamisch-wortgewandten Erzählweise pointiert es am Ende eines jeden Kapitels selbst ein wohldosiertes Maß an Offenheit. Und nach Adorno ist es bekanntlich der Rätselcharakter, der ein Werk zur Kunst macht.

Info

Spiegelungen. Variationen einer Metapher Jörg Becker Reihe FiLit, Band 16, hg. von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen Verbrecher 2017, 216 S., 16 €

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