Es gibt Bücher, die so souverän die disziplinären Grenzen des akademischen Wissenschaftsbetriebs überschreiten, so ungewöhnlich in ihrem Umgang mit Traditionen und Begriffen sind, so voller spekulativem Überschuß, aber zum Teil auch voller dunkler Stellen, daß sein Lesepublikum, wie gespannt es auch immer ein solches Buch zur Hand nimmt, zwischen intensiver Angeregtheit und Ratlosigkeit pendelt. Die Erfahrungen, die ein solches Buch ermöglicht, spornen das eigene Nachdenken an, aber man kann nicht umhin, einzelne Passagen einfach zu überspringen, um sich desto gründlicher dort zu versenken, wo der Text einen mitunter ganz überraschend ins Zentrum dessen geleitet, was direkt mit dem eigenen Leben verknüpft ist.
Geschichte und E
schichte und Eigensinn, von Oskar Negt und Alexander Kluge in drei Jahren gemeinsamer Arbeit geschrieben und 1981 erschienen, ist ein solches Buch. 1.283 Seiten stark und angefüllt mit zahlreichen Abbildungen, führt ein allein neunseitiges Inhaltsverzeichnis durch den Dschungel an Gedanken und Untersuchungen. Die Autoren nennen es schlicht ein »Gebrauchsbuch« und kommentieren trocken: »Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.« Die Liebhaber systematischer Theoriebildung provozieren sie recht beiläufig mit dem Satz: »Alles wirklich Brauchbare besteht in Aushilfen.«Trotz seiner unsystematischen Erscheinungsform handelt sich um einen hochorganisierten Text. Er versammelt eine Masse von Fragestellungen, die ohne das experimentierfreudige politische und kulturelle Klima der siebziger Jahre nicht denkbar gewesen wären. Heute aus dem Kegel der Aufmerksamkeit gerückt, ist es eines der erregendsten Bücher der alten Bundesrepublik und noch immer voller Anregungen. Die radikale Einbeziehung der eigenen Subjektivität in das Nachdenken über Geschichte und die im Denken in actu angestoßenen Veränderungen der eigenen Wahrnehmung prägen seinen Zugang zu dem, was Negt/Kluge die geschichtliche Prägung der Arbeitsvermögen nennen.So heißt es im Kapitel über das Laboratorium der »Beziehungsarbeit«, in dem die Ängste und Sehnsüchte, die gesellschaftlichen Charaktere der Menschen, eingesperrt in eine bloß zum Schein intime Sphäre, gebildet werden: »In der Analyse geht es zunächst darum, die Härte bestehender Verhältnisse festzuhalten, wenigstens einige der Wurzeln zu erkunden. Jedesmal wenn wir dazu ansetzen, wehrt sich in uns etwas, weil wir ja selber Wünsche haben, die sich gegen diese Härte vehement querstellen und auch von der Veränderbarkeit wissen. Wir können aber synthetisches und analytisches Interesse nur nacheinander zur Anwendung bringen (...). Antirealismus der Gefühle und Orientierungsbedürfnis zerstreiten sich schon bei der Wahrnehmung. Diese ist voller Leugnungen. Umso wichtiger ist es, daß wir die Beobachtung an den Anfang stellen, daß nichts von dem, was wir untersuchen, seiner Tendenz nach etwas Feststehendes ist, es ist immer schon von selbst in gegenläufiger Bewegung«.In Erweiterung der philosophischen Anthropologie des jungen Marx begreifen Negt/Kluge sämtliche praktischen Tätigkeiten des Menschen als Arbeitsprozesse, die im Spannungsverhältnis zwischen toter und lebendiger Arbeit stattfinden. Aus der Perspektive der beteiligten Subjekte konstituiert dieser Gegensatz aber auf jeder Stufe der geschichtlichen Entwicklung eine Gemengelage ineinander verschlungener Konflikte zwischen fremdbestimmten und selbstorganisierten Tätigkeiten. Es geht darum, das Poröse der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge, die Mikrophysiken der Gegenmacht und der Wunschökonomien, welche auf die Verhaltenszumutungen des Kapitals antworten, einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Obwohl der junge Horkheimer sehr vage etwas Ähnliches im Sinn hatte (aber nie entfalten konnte), ist in der Tradition des westlichen Marxismus weder vorher noch nachher je wieder der Versuch unternommen worden, die Kategorien der Kapitalkritik so phantasievoll mit ihrem notwendigen Anderen, dem Eigensinn der Subjekte und dem der Macht Entgegengesetzten zusammenzudenken.Oskar Negt bezeichnet sich selbst gern als »58er«, da seine ersten politischen Erfahrungen in die Zeit der frühen außerparlamentarischen Opposition, der Ostermarschbewegung und der Diskussionen im SDS um Hochschulreform und neue Formen sozialistischer Politik zurückreichen. Zentral für seinen Erfahrungsansatz aber war die Auseinandersetzung mit der damaligen gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. In der noch jungen Bundesrepublik bestand diese aus einem eher bewußtlosen Nebeneinander von Arbeitsrecht, volkswirtschaftlichen Theorien, betriebswirtschaftlichem Spezialwissen, politischer Wissenschaft und Materialien aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. In dieser Fragmentierung des Wissens blieb der Lebenszusammenhang der »condition ouvrière« eigentümlich ausgespart, eine Kluft zwischen Alltagserfahrung und der Welt der Bildung tat sich auf, die exemplarisches und erfahrungsgesättigtes Lernen schließen sollte.Bei Adorno hat Negt mit einer Arbeit über den Gegensatz zwischen positivistischen und dialektischen Denkweisen am Beispiel von Hegel und Auguste Comte, dem Begründer der Soziologie, promoviert. Danach verfaßt er eine Reihe von soziologischen Analysen zur Ideologie der autoritären Leistungsgesellschaft und dem Gesellschaftsbild der bundesrepublikanischen Führungsschichten, die unmittelbare Bedeutung für seine politische Essayistik besaßen.Das Wissen um die Hartnäckigkeit gesellschaftlicher Machtverhältnisse und die unvermeidliche Langfristigkeit substanzieller Veränderungen gehört zu seiner persönlichen Erbschaft dieser Zeit. Es hat seine Beharrlichkeit und die Form seines politischen Engagements geprägt, die sich in Bewegungen situiert und diese mit Orientierungswissen ausstattet, aber zugleich auch die Berührung mit den institutionalisierten Formen des Politischen sucht. Das nüchterne Bewußtsein von der Zerbrechlichkeit (besonders der deutschen) politischen Kultur hat ihn auch vor jenen Pendelbewegungen zwischen Euphorie und Depression, zwischen Resignation und angemaßtem Avantgardismus geschützt, die die politische Praxis letztlich so wenig verläßlich werden lassen. Die Jahre um 68 hat er mit einem anderen Zeitbewußtsein erfahren, als viele der jüngeren Akteure damals, die auf eine kurzfristige Revolutionierung des Lebens, gar auf eine bevorstehende Berliner Räterepublik gehofft hatten und die inzwischen nicht selten diesen Abschnitt ihrer Biografie zu einer kollektiven generationsspezifischen Selbsttäuschung entwertet haben.Die erste gemeinsam mit Alexander Kluge verfaßte Untersuchung über Öffentlichkeit und Erfahrung aus dem Jahre 1972 sollte ein Fundament dafür abgeben, wie die Impulse des Aufbruchs von 1968 in eine langfristige Strategie zur Verlebendigung der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung umgesetzt werden können. Wie kann der von den mediatisierten Öffentlichkeiten ausgegrenzte Rohstoff der Ungerechtigkeitserfahrung zurückkehren in den politischen Raum? Parallel dazu initiiert Negt gemeinsam mit Freunden in Hannover den Aufbau der Glocksee-Schule, einer der wenigen Alternativschulen, die die Bundesrepublik hervorgebracht hat.Wie das Mitte der 80er Jahre erschienene Buch Lebendige Arbeit, enteignete Zeit zeigt, bleibt Negt seinem Engagement in den Gewerkschaften treu, um angesichts der beginnenden Massenarbeitslosigkeit für einen Einstieg in den Prozeß schrittweiser Arbeitszeitverkürzungen zu argumentieren.Neben diesen Feldern des intellektuellen und praktischen Engagements lehrt Negt in Hannover Soziologie, wobei er allerdings in einer Weise, die für das Fach selbst inzwischen ausgesprochen untypisch geworden ist, der erkenntniskritischen und moralischen Selbstreflexion des sozialwissenschaftlichen Wissens größtes Gewicht beimißt. Der Zusammenhang von Soziologie und Philosophie, den die Soziologie auf dem Wege ihrer Professionalisierung vernachlässigt, bleibt immer präsent. Angesichts der heutigen Departementalisierungen des Denkens kann Negt nicht ohne Stolz von sich sagen: »Im Grunde bin ich in meiner ganzen wissenschaftlichen Entwicklung durch das Raster der Disziplinen gefallen.«Damit mag auch der methodische Vorrang des Besonderen vor dem Allgemeinen zusammenhängen, den Negt bei Adorno gelernt hat, dem er aber eine über die Gegenstände akademischer Erfahrung und philosophischer Reflexion hinausgehende Gestalt verliehen hat. Er bezieht seine Theoriemotive von Anfang an stärker als jener von den lebensweltlichen Erfahrungen und politischen Konflikten seiner Zeit. Vielleicht läßt sich sagen, daß sein Werk auch für eine »Profanierung« und »Urbanisierung« des Adornoschen Erfahrungsbegriffs, für dessen Öffnung »nach unten«, zur Alltagspraxis der Menschen hin, steht. Insofern widerspricht es zugleich dem Dialektikmodell Adornos, das um den Überhang an Objektivität organisiert ist und keinen genuinen Zugang zu jener Unterseite der gesellschaftlichen Konflikte zu erschließen vermag, in denen nicht allein sich verhaltende, sondern handelnde Subjekte mit ihrer Phantasie und ihrem Urteilsvermögen auf die Verhältnisse antworten.Das Montageprinzip und die bisweilen spielerische Verknüpfung von Fragmenten, von geschichtlich Unfertigem, die Geschichte und Eigensinn vielleicht am radikalsten entfaltet, hat hier ihren eigentlichen Grund. Während die Abstraktionslogik, die die einzelnen »Systeme« in ihrer Funktionsweise bestimmt, systematisch analysiert werden kann, sind die quer dazu stehenden soziokulturellen und psychischen Prozesse in den Lebenswelten der Menschen in dieser Weise nicht zu begreifen. Bereits bei Walter Benjamin und Ernst Bloch finden sich im Rekurs auf die Romantik anregende Überlegungen zum Umgang mit den »Realfragmenten« der geschichtlichen Erfahrung, die die Phantasie utopisch anstacheln und dem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen sollen.Hieran hat Negt ebenso angeknüpft wie an Maurice Merleau-Pontys bis heute herausfordernde Phänomenologie der Wahrnehmung, um das Denken nicht in den Verengungen einer radikalisierten Ideologiekritik abbrechen zu lassen. Indem das Besondere als etwas mit dem Allgemeinen nicht vollständig Vermitteltes anerkannt, als etwas real Unfertiges »geborgen« wird, verweist es von sich aus auf einen möglichen Bildungsprozeß. Sowohl das Konzept des exemplarischen Lernens wie die Architektur von Negts Büchern, mit ihrem Wechselspiel von spröder begrifflicher Anstrengung und konkret-sinnlicher Anschauung, verkörpern diese Haltung. Sie steht gegen das »Ideal des Automaten« in der Theoriebildung, die immer mit einer Wendung gegen die Erfahrung verbunden ist und auch im klassischen Marxismus (bis hin zu den strukturalistischen Marxlektüren der sechziger Jahre) verheerende Folgen hatte.Zu dieser Haltung gehört etwas mit hinzu, was, wer Oskar Negt bei Vorlesungen oder öffentlichen Reden gehört hat, sofort gespürt haben wird: sein Affekt gegen Lagermentalitäten und gegen das Einigeln in den festgefügten Mauern irgendeiner »Schule« oder Tradition. Dem Typus des Intellektuellen, den er repräsentiert, gilt das Aufsprengen solcher Lagerbildungen und Einordnungszwänge nicht allein als eine Selbstverständlichkeit des auf Emanzipation gerichteten Denkens, sondern scheint seine Lust an der geistigen Arbeit zusätzlich zu beflügeln. »Die Form Âwilden DenkensÂ, der Versuch, auszubrechen aus den akademischen Arbeitsteilungen bei jeder Sache, mit der ich mich befasse, hat etwas Befreiendes.«Es ist nicht zu übersehen, daß die zeitdiagnostische Essayistik Negts in den letzten Jahren zunehmend dunklere Töne anschlägt. Sein kleines Büchlein »Kältestrom« etwa fokussiert eine andere Tendenz als die Texte vor 1989. Wilhelm Hauffs Kunstmärchen Das kalte Herz, das den Kampf um »Gold und Güter« als Ausgangspunkt einer emotionalen Verrohung bezeichnet, liefert die Stichworte für das Nachdenken über Kälte- und Wärmeströme in unserer Gesellschaft, über nachlassende Sorgfalt im mitmenschlichen Umgang, gnadenlose Konkurrenz und die aufgezehrten Quellen der Solidarität. Seit langem verstärken sich die Anzeichen, daß die Ideologie des Neoliberalismus mit seiner negativen Utopie des vielseitig abrufbaren, flexiblen und konsumistisch individualisierten Menschen tiefe Wurzeln in der Alltagskultur des High-Tech-Kapitalismus geschlagen hat.»Im allseitig verfügbaren Menschen entsteht ein für demokratische Gesellschaftsordnungen ungeheuer gefährliches Potential: die Bindungslosigkeit. Bindungsfähigkeit dagegen ist die einzige Grundlage für lebensfähige demokratische Verhältnisse, die nicht jeden Augenblick umkippen können«, hat Negt bei den Frankfurter Römerberggesprächen im letzten Jahr erläutert, und dafür großen Beifall erhalten. Anzeichen dafür, daß die Erosion des intellektuellen Engagements, die im Zeichen der Postmoderne stattfand, vielleicht endlich als unerträglich empfunden wird?Oskar Negt ist einer jener rar gewordenen Intellektuellen, die die Rückbindung ihres Schreibens und Sprechens an die drängenden Probleme der Zeit und die Erfahrungswelt der »ordinary people« nie preisgegeben haben - gerade das macht ihn zu einem der authentischen Aufklärer der Bundesrepublik. Er feiert am 1. August seinen 65. Geburtstag.Im Offizin-Verlag erscheint in diesen Tagen der Band Kritische Theorie und politischer Eingriff, herausgegeben von Wolfgang Lenk, Mechthild Rumpf und Lutz Hieber, der Negt gewidmet ist.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.