Dampfender Kamillentee steht auf dem Tisch. „Deine Mudder“ prangt in Großbuchstaben auf einem Plakat an der Wand, das die Erde zeigt. In der Landesgeschäftsstelle der Grünen Jugend Berlin trifft man sich montagabends, um Aktuelles zu besprechen und abzuhängen. Es ist der Montag der vergangenen Woche, noch weist der Weg nach Jamaika und das Platzen der Sondierungen ist sechs Tage fern.
Nach Abwarten der akademischen Viertelstunde beginnt die Vorstellungsrunde, es sind auch neue Gesichter gekommen und man will sich kennenlernen. Als Erstes nennt jeder sein Pronomen, um Misgendering zu vermeiden. „Wir sind ja keine reine Ökopartei“, erklärt ein Mädchen in der Runde. Sie machen sich hier generell viele Gedanken über Sprache. Als es
he. Als es um die Änderungsanträge für die bevorstehende Landesdelegiertenkonferenz geht, kommen viele Fragen auf: Heißt es „Kriegsgeflüchtete“ oder ist die Bezeichnung „Kriegsflüchtling“ in Ordnung? Ist der Begriff Inklusion nicht besser als der Terminus Integration? Mit lachendem Auge erinnern sie sich daran, wie vergangene Vorschläge zur Verbesserung der Ausdrucksweise von der Parteibasis abgeschmettert wurden. Trotzdem werden fleißig weiter Anträge geschrieben. Die Grüne Jugend schmiedet auch in diesen Tagen an der Revolution der Diktion.„Wir erkennen die Notwendigkeit dieser Gespräche an“, steht in einem im Herbst von der Grünen Jugend beschlossenen Statut zum Thema Jamaika-Bündnis. Die grüne Partei ist keine politische Debütantin mehr. Es ist lange her, dass sie als neue Bewegung in Richtung Institutionen drängte. Damals schrieb Petra Kelly: „Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem die Grünen einen wahrhaft demokratischen und ökologischen Partner unter den etablierten politischen Parteien finden.“ So viel steht fest: Union und FDP waren nicht diese „wahrhaft demokratischen und ökologischen Partner“, von denen Kelly träumte. Aber die Grünen, ergriffen vom Eros der Vernunft, wähnten sich in der Verantwortung zum Regieren.In der Präambel eines Sondierungspapiers, das die Unterhändler von CDU, CSU, FDP und Grünen Mitte November, also vor dem sich leidig hinziehenden „Sondierungsfinale“, veröffentlichten, hieß es unter anderem: „Wir wollen Integration fördern sowie Migration steuern (und begrenzen).“ Und weiter: „Wir wollen die Menschen bei Steuern, Abgaben und Bürokratie entlasten.“ Am Samstagabend machten die Grünen dann einen weiteren Schritt auf die CSU zu und akzeptierten die Aufnahme von maximal 200.000 Flüchtlingen pro Jahr. Der „atmende Rahmen“, ein Euphemismus für die rechte Forderung nach einer Obergrenze. Hätten es nicht die Grünen anstelle der FDP sein müssen, die – angesichts solcher politischer Perspektiven – erbost vom Verhandlungstisch aufspringen? Wieso überließen sie diesen Schachzug anderen?Patriot ÖzdemirDie Antwort liegt auf der Hand: Weil sie die Übereinkunft wirklich wollten – koste es, was es wolle. Willy Brandts Credo vom Kompromiss als dem „Wesen der Demokratie“ ruht schon lange als Sediment auf dem grünen Parteiboden. Dazu passt, dass Cem Özdemir nach dem Scheitern der Gespräche die Motivation seiner Partei zu erklären versuchte, indem er von „Verantwortung dem eigenen Land gegenüber, Europa gegenüber und der Bedeutung unseres Landes der Welt gegenüber“ sprach, was sich auch als eine „Haltung des Patriotismus“ bezeichnen ließe.Der Kritiker des Repräsentativsystems und APO-Vordenker Johannes Agnoli schreibt im 1967 erschienenen Buch Transformation der Demokratie, die politische Linke würde durch ihre Parlamentarisierung domestiziert und zu einer „Opposition Seiner oder Ihrer Majestät“. Das können die Grünen locker überbieten. Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass sie sogar zum Büttel Ihrer Majestät werden wollten. Sie genossen es sichtbar, neben Angela Merkel auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft zu stehen und sich mit dem bürgerlichen Lager ablichten zu lassen. An ihnen ist eine Allianz mit Union und FDP nicht gescheitert. Der linke Geist der Subversion, der kategorische Imperativ – im Marx’schen Sinne – zur Umwälzung erniedrigender Verhältnisse ist dem grünen Lager längst abhanden gekommen.Der Bundessprecher der Grünen Jugend sieht das anders. Im Gespräch mit dem Freitag, noch vor Abbruch der Sondierungen, sagt Max Lucks, er wolle dafür sorgen, „dass die Grünen eine linke Partei bleiben“ und konstatiert, dass man sie „langfristig für eine progressive und linke Politik braucht“. Der 20-Jährige trägt eine Basecap auf gegeltem Haar und untermalt seine Pointen gekonnt mit Gesten, seine Sätze klingen fernsehtauglich. Es ist für Nachwuchspolitiker opportun, kritischer als ihre Führung zu sein; Lucks verortet sich links von seiner Mutterpartei. Er fordert perspektivisch ein universelles Bleiberecht für Flüchtlinge und glaubt, „dass es Freiheit nur in einem gerechten Staat geben kann“. Klingt nicht schlecht. Aber wo war der Protest, als seine Partei ihn am meisten brauchte?Während die Grünen in den Sondierungen ihren Markenkern, den Umweltschutz, zusammen mit der sozialen Gerechtigkeit verscherbelten, war von einem Brodeln an der Basis nichts zu spüren. Lucks nennt Jamaika nicht etwa ein No-Go, sondern „höchstens einen Notnagel für vier Jahre“. Wenn aus Linksradikalen, die in ihren Zwanzigern Polizisten verprügeln, später grüne Außenminister und dann Lobbyisten für börsennotierte Konzerne werden, was haben wir dann von politischem Nachwuchs zu erwarten, der sich schon in diesem Alter so staatstragend gibt?Kommenden Montag werden sich die jungen Grünen wieder in der Geschäftsstelle in Berlin treffen, um über Formulierungen zu streiten und Kamillentee zu trinken. Vielleicht wäre es an der Zeit, den Becher abzustellen, um sich zu echauffieren.Placeholder link-1