Wer heute noch Zeitung liest, wird genau wissen wozu, oder hat per Zufall ein Exemplar in der Hand. Dass jemand über die Zufallslektüre zum Stammleser wird, ist vielleicht nicht auszuschließen, scheint angesichts der immer subtiler ausgeformten Dauerwerbekampagnen jedenfalls möglich. Manche Zeitungen, manche Rubriken verweigern sich dem allerdings. Genauer gesagt: oft steht Inhalt, Anspruch und Stil der Zeitungen dem penetranten Gestus des Werbens entgegen. Am deutlichsten zu verstehen auf Wirtschafts- und Finanzmarktseiten, wo Nüchternheit und Statistik oberste Richtlinie sind. (Übersehen Sie jetzt Anzeigen und Immobiliengeschäfte, die Ihnen hier Gewinn suggerieren.) Sie lesen die Kontaktanzeigen nicht, um ein Auto zu kaufen, aber wozu lesen Sie eine Zei
Zeitung? Und wie lesen Sie? Sie lesen, wie geschrieben wird.Ich: Technik und Motor zum Beispiel, hier lässt sich was lernen. Zuerst was Preise angeht, natürlich. Wenn man dann aber liest, um zu wissen, wird man entdecken, dass dieses Beiblatt eine Sprache hat. Die Sprache der Wirtschaftlichkeit. Der ökonomischen Formulierung, der praktikablen Bilder, der handlichen Metaphern. Hier habe ich in Echtzeit die Beschreibung eines Boxenstopps bei Ferrari gelesen, der optimale 7,3 Sekunden betragen soll. Übertrieben, zugegeben, aber das Gefühl war da. Hier findet sich keine Werbung, sieht man davon ab, dass alles Werbung ist, hier wird der Markt schließlich sondiert. Ich rede von der Dienstagsbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, mein wöchentlicher Favorit, warum.Ich könnte Gründe anführen: dass es die männlicher Spezies zugeschriebene Technikbegeisterung ist, die mich fasziniert; dass ich kein Auto fahren kann und das kompensiere mit der Lektüre neuester Fahrberichte; dass die für Schreibarbeit nötige Konzentration ein geeignetes Ablenkungsfeld findet in Technik und Motor, wo ja ausschließlich von auf Funktion getrimmten Aggregaten jeder Art die Rede ist. Und so weiter. Möglich, dass es das ist. Mich hat der Nutzen überzeugt, das Sachliche, ganz Zweckgebundene der Seiten. Es kann nur einen Konsens geben unter Herausgebern, Autoren und Lesern: keine Meinung zu haben, Werte zu bewahren, die es wert sind. Wie das gehen soll? Zugegeben, frei von Meinung sind solche Fachbeilagen nicht ganz, auch ein Fachurteil stellt eine Meinung dar, wozu sonst haben wir Gesetze und eine öffentliche Moral. Wozu hätte Marx die Ökonomisch philosophischen Manuskripte geschrieben? Damit wir zum Beispiel verstehen, dass (unter Umständen) auch die Kritik am Markt ein Marktsegment sein kann. "Gesellschaftskritik, oder was sich dafür hält, leidet gemeinhin unter der Vorstellung, sie müsse ihre Gegenstände entlarven. Womit sie sich befasst, das stellt sie sich gern als undurchschaubar vor." Das hat Enzensberger Wort für Wort gesagt vor 47 Jahren, als er Die Sprache des "Spiegel" angriff in gleichlautendem Artikel. Ich zitiere das, weil Enzensberger nach Meinung aller Feuilletons eben dort den Zeitgeist repräsentiert, wenn er ihn kritisiert. Und wenn er (und andere) sich mühen, geschliffene Gutachten unter die Leute zu bringen, während ich in Glossen über Rezensionen von Kritiken feststellen muss, wie sehr sich die Kultur des apodiktischen Einspruchs verbreitet auf, genau: selbstreferentieller Basis, dann greift einer wie ich zur nächsten Fachbeilage, sei es Technik und Motor oder Geisteswissenschaften, notfalls Reise. Dort findet man, statt "Zukunft des Feuilletons", was wirklich wichtig ist: "Training hilft dem Gedächtnis". Zum Beispiel. Oder "Wie teuer ist das billigste Bett?" oder "PET-Flasche kurz vor der ökologischen Verträglichkeit", "Der Kundenwunsch ist das Maß aller Dinge" oder, oder, oder. Die kleinen und die großen Dinge. Taschenmesser, Modellbau, Hochofenabstich, zur Geschichte des Wasserklosetts. Hier finden Sie kritisches Denken, stilistisch auf den sogenannten Punkt gebracht - alles das, was Sie im Politikteil und im Feuilleton vermissen, was wollen Sie mehr? Das Kulturgut als solches wird unterm Aspekt seiner (technischen) Belastbarkeit analysiert. Ich sehe das als Gesellschaftskritik, die entlarvt und dabei noch durchschaubar ist, und wünsche Übertragung auf die restlichen Genres des Journalismus.Um zu verdeutlichen, was ich vermisse, wo mir anderes zuviel wird, füge ich einen Brief aus der Ära vor der großen Zeitungskrise an. Damals wurde die Hauptstadt von einer beispiel- aber folgenlosen Abo-Kampagne einer Zeitung überrollt. Der damalige Chefredakteur hatte sich nicht nehmen lassen, persönlich der avisierten Klientel zu schreiben, und ihr auf das jeweilige Adressatenprofil abgestimmte Sonderausgaben zuzusenden. Er hat sogar Heiner Müller bedrängt, und der war schon fünf Jahre tot. Wer Pech hatte wie ich, bekam nicht nur eines dieser Spaßorgane ab. Als es zuviel wurde, schrieb ich zurück:Lieber Chefredakteur, danke für die kleine Zeitung, die Sie mir ins Haus zu schicken "sich beehren", wie Sie es nennen. Es ist jetzt schon die dritte. Leider beginnt Ihre, möglicherweise scherzhaft gemeinte, Titelschlagzeile mit einer Fehlmeldung: "Thomas Martin liest ..." jetzt keineswegs die "meistzitierte Tageszeitung aus Berlin". Ich lese nur gründlich Ihre werbenden Zeilen. Im Feuilleton lassen Sie mir mitteilen, daß "Kulturgut mit uns noch farbiger" wird. Ja, das ist es eben. Auch auf die bunte Werbung, die Sie drucken oder die Ihrer Zeitung stapelweise beiliegt, würde ich gerne verzichten. Aber ich weiß ja, daß Sie das zum Überleben brauchen, wie die Zeitung ihre Leser braucht. "Wer nicht wirbt, der stirbt", hat meine Oma gesagt, als es im Osten keine Werbung außer Tausend-Tele-Tips gab, mit denen die Bevölkerung daran erinnert wurde, daß es was zu kaufen gab, und die Sie sicher nicht kennen. Als mir vor einigen Wochen einer Ihrer Straßenwerber nachlief, um mir partout ein Abo zu vermachen und sich zu diesem Zweck vor den Kinderwagen stellte, den ich schob, mußte ich ihn erst schubsen, bis er den Weg frei gab. Er schrie mir hinterher, daß er sich hier den Arsch aufreiße für mediale Kommunikation (hat er wirklich gesagt) und ich ihn dafür nicht verachten könne ...Und so weiter und so fort. Es war ein längerer Brief, ich habe nur Auszüge zitiert. Mediale Kommunikation. Meine Neigung zu Sachlektüre - ich hoffe, ich konnte Sie damit ein wenig erläutern. Auch der Sport gehört "im Übrigen", wie es in der Politik heißt, dazu. Wenn geistiger Niedergang, Kulturabbau und Unkultur wo aufgehalten wird, steht Technik und Motor in vorderer Bastion. Man erkennt vielleicht nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber man kann sie hier als Gebrauchsgegenstand sehen, und prüfen, ob man selbst dazu gehört, indem man damit umgehen lernt. Mit den Gegenständen, meine ich.
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