Attac-Sommerakademie Vier Tage lang wurde in Marburg der Lust am Selberdenken gefrönt. Themen waren unter anderem internationale Finanzpolitik, Folgen der Globalisierung und die Klimaveränderung
Gründe, zu Attac zu kommen, gibt es viele. Da ist das Unbehagen an der offiziellen Politik, in der von Umverteilung und Gerechtigkeit - erst recht im weltweiten Maßstab - schon lange nicht mehr glaubhaft die Rede ist. Oder die Feststellung, dass der selbst gesteckte Rahmen der Hochschulpolitik, der lokalen Frauengruppe, der Nachbarschaftsinitiative plötzlich zu eng geworden ist für grundlegende Fragen. Manchmal keimt unter jahrelang angestauter politischer Resignation auch schlicht noch einmal die Hoffnung auf: Und was, wenn eine andere Welt doch möglich wäre? So unterschiedlich die Geschichten waren, mit denen die 800 TeilnehmerInnen der ersten deutschen Sommerakademie von Attac vergangene Woche nach Marburg kamen, was sie einte, war eine für hiesige Ver
sige Verhältnisse erstaunliche Gelassenheit in prinzipiellen Fragen. Braucht es als Regulativ der wirtschaftlichen Globalisierung eine linke Global Gouvernance? Strukturen globaler Staatlichkeit, die nicht der Logik des Marktes unterworfen sind und künftig die Bereitstellung von öffentlichen Gütern wie Wasser, Bildung und Gesundheitsversorgung garantieren, wie die Berliner Politikprofessorin Birgit Mahnkopf forderte? Oder lenkt der Blick auf staatliche Regulierung, wie Ulrich Brand von der Universität Kassel dagegen hielt, nur von der Einsicht ab, dass Neoliberalismus tatsächlich ein sehr viel umfassenderer Prozess ist, gegen den eine radikal emanzipative Bewegung eine neue Praxis der Widerständigkeit auf allen Ebenen des Alltags entwickeln müsste? Soll die WTO abgeschafft oder - wie der Greenpeace-Vorsitzende Wolfgang Sachs vorschlug - lediglich eingeschränkt werden mit dem Ziel, Gemeingüter wie Natur, kulturelles Erbe und die öffentlichen Basisdienste von der weltweiten Liberalisierung auszunehmen? Und der IWF? Die Weltbank? Der Kapitalismus? Kohärente Antworten, das machte diese erste Sommerakademie deutlich, sind von der globalisierungskritischen Bewegung auf diese Fragen (noch) nicht zu erwarten. Denn, so pointiert die Statements auf den abendlichen Podien in diesen Punkten waren, unter den ZuhörerInnen lösten sie kaum Kontroversen aus. Obwohl das Audimax der Marburger Philipps-Universität an allen vier Abenden voll besetzt und der Applaus des Publikums teilweise frenetisch war, galt der Beifall paradoxer Weise allen Positionen gleichermaßen. "Wir brauchen das Sowohl-als-auch", formulierte eine Zuhörerin die allgemeine Stimmung, "die Diskussion darüber ist wichtig für unsere Bewegung". Naiv? Unreif? Beliebig? Dagegen spricht jedenfalls die Ernsthaftigkeit, mit der in den über 130 Seminaren und Workshops der Sommerakademie vier Tage lang gearbeitet wurde. Ob es um die Situation an den internationalen Finanzmärkten, die Privatisierungstendenzen in den Kommunen, die Folgen der Globalisierung für die Dritte Welt, um Steuerpolitik, Klimaveränderungen, neue Formen der Arbeit oder Nachhaltigkeit ging - die Säle waren jedes Mal voll und das Interesse der Anwesenden an konkreten Informationen spürbar echt. "Warum rät der IWF immer wieder zur Privatisierung staatlicher Strukturen, wenn die Leute dadurch verarmen?" wollte im Anschluss an Peter Wahls Ausführungen zum Währungssystem von Bretton Woods ein Zuhörer wissen. Was ihm andernorts womöglich irritierte Blicke, süffisantes Grinsen oder schlichtes Überhörtwerden eingebracht hätte, bot hier eine willkommene Gelegenheit zu angewandter Ideologiekritik für alle. Man mag derlei für randständig oder banal halten. Doch die Art des persönlichen Umgangs innerhalb politischer Zusammenhänge ist für deren politische Nachhaltigkeit ebenso entscheidend wie für ihre Bündnisfähigkeit nach innen und außen. Wo sonst würde sich ein Jurist in ein globalisierungskritisches Seminar setzen und offen erzählen, dass er für eine Großbank arbeitet und darüber nachdenkt, "ob ich nur Teil des Problems oder auch Teil der Lösung bin"? Wo, wenn nicht im Rahmen einer Organisation, die sich Offenheit zum Prinzip gemacht hat, trifft man auf zwei selbständige UnternehmerInnen Anfang Vierzig, die wie Peter und Barbara aus Halle nach einem Radiobericht über Attac entschieden haben, "dass wir genug Schickimicki-Urlaub gemacht haben - jetzt ist ein Bildungsurlaub dran"? Und wo anders begeistert sich nach einem Seminar über soziale Bewegungen ein Bürgermeister aus dem Schwäbischen für die mexikanischen Zapatisten, weil "denen Macht gar nicht wichtig ist"? Wie entscheidend es sein kann, solche Leute (und all die Lehrerinnen, Verlagslektoren, pensionierten Pfarrer, Hausmänner, die Vorruheständlerinnen, SchülerInnen und Studierende der unterschiedlichsten Disziplinen), die oft nicht mehr als eine diffuse Sehnsucht nach Veränderungen zu Attac geführt hat, mit im Boot zu haben, ist freilich noch nicht abzusehen. Zumal nicht sicher ist, wie viele tatsächlich bleiben. Dennoch, so schien es in Marburg, könnte daraus eine Bewegung werden, die viel von ihrer Energie aus sich selbst schöpft: aus der Lust am Selberdenken und -machen (was in sich schon eine Art Widerstand gegen den neoliberalen Mainstream wäre). Inhaltlich kommt den Attac-Bewegten dabei das hohe Maß an entwicklungs- und sozialpolitischem Know-How zugute, das bislang in vielen Arbeitskreisen mit beschränkter öffentlicher Reichweite schlummerte: Als Netzwerk vieler dieser Gruppen verfügt Attac, wie die Sommerakademie zeigte, über hute Kontakte zu kompetenten Referentinnen und Referenten, die ihr Wissen und ihre politische Erfahrung kontinuierlich in die Bildungs- und Kampagnenarbeit einfließen lassen. Dazu kommt: Je stärker die gesellschaftlichen Folgen der Globalisierung auch hierzulande spürbar werden, um so notwendiger wird die Anschlussfähigkeit von Attac auch für Menschen, die mit der reinen Lehre wenig im Sinn haben. Und auch wenn es zynisch klingt - die Chancen dafür steigen. Denn auch das zeigt ein globalisierungskritischer Blick über die Grenzen: Was an Abbau sozialer Sicherungssysteme in den nächsten Jahren auf uns zukommt, haben andere schon hinter sich. Die hoch gelobte Wahlfreiheit im Gesundheitswesen beispielsweise, die von SPD- und CDU-PolitikerInnen derzeit gebetsmühlenartig beschworen wird, ist in Chile längst traurige Realität. Was das bedeutet, erläuterte die brasilianische Ärztin und Gesundheitsexpertin Lígia Giovanella in Marburg an einer einfachen Zahl: 800 unterschiedliche private Versicherungsverträge sind in Chile derzeit auf dem Markt, der individuelle Versicherungsschutz hängt dabei allein von der Höhe der einzuzahlenden Monatsbeiträge ab. Die höchsten Zuzahlungen - bis zu neunzig Prozent bei chronischen oder psychiatrischen Krankheiten - müssen folglich diejenigen zahlen, die am wenigsten verdienen und sich deshalb keinen umfassenden Versicherungsschutz leisten können. "Das Gesundheitssystem ist keine ökonomische, sondern eine politische Frage", bilanzierte Giovanella und verwies zum Beweis auf das brasilianische Modell, das seit 1988 über ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem allen Bürgerinnen und Bürgern - unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit - ein in der Verfassung festgeschriebenes Recht auf Gesundheitsversorgung garantiert. Erkämpft und durchgesetzt - auch gegen den Widerstand des IWF - hat das die brasilianische Demokratiebewegung. Warum globalisierungskritisches Engagement unabdingbar ist? Auch Jean Ziegler hat diese Frage in Marburg auf seine Weise beantwortet. 56 Millionen Menschen sind im vergangenen Jahr an Hunger, Wassermangel, Krieg und längst heilbaren Epidemien gestorben, stellte der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung fest und erinnerte seine ZuhörerInnen daran, dass sie in der größten Demokratie und der wichtigsten Industrienation Europas leben. "Wir müssen ihre Stimme sein", forderte er, "denn der Kampf gegen die von Menschen gemachte, mörderische Weltordnung ist ein Kampf um unsere Zivilisation - ein Kampf der Selbstverteidigung letztlich." Und einen Rat gab er den Skeptischen noch mit auf den Weg: "Fragt nie nach den Früchten der Bäume, die ihr pflanzt."
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