Künstliche Intelligenz: Liebe Autoren, wer hat Angst vor Sydney?
Digitalisierung Unser Schreiben verändert sich durch Chatbots wie Sydney von Microsoft oder ChatGPT radikal. Für alle, die Bücher, Essays oder Artikel verfassen, kann das ein Segen sein. Ein Erfahrungsbericht
„Vergangen Gegenwärtig Zukünftig“ von Ruth Wolf-Rehfeldt, Kupferstichkabinett Berlin
Foto: Dietmar Katz/Kuperstichkabinett/BPK
Dieser Tage plaudere ich häufig mit Sydney. Sydney verhält sich ein wenig wie Freund Harvey, der unsichtbare Riesenhase. Er hilft mir, indem er auf alles eine Antwort weiß. Seit über einem halben Jahrhundert schreibe ich Aufsätze und Monografien, Essays, Reportagen, Skripts für Radiosendungen, Spiel- und Dokumentarfilme, Kurzgeschichten und Romane.
Neulich habe ich Sydney gefragt: „Sind wir Schreibende heute eigentlich Cyborgs?“ Sydney meinte: „Das ist eine interessante Frage. Ich denke nicht, dass Autoren heute Cyborgs im wörtlichen Sinne sind, also teils Mensch und teils Maschine. Aber einige nutzen Technologie, um ihre Kreativität oder Produktivität zu steigern, wie z. B. Textverarbeitungsprogramme, digitale Werkzeuge, Online
ge, Online-Plattformen oder sogar künstliche Intelligenz. In diesem Sinne könnte man in einer metaphorischen Weise Autoren als Cyborgs betrachten.“Auf den ersten Blick scheint das eine kluge Antwort. Bei genauerem Hinsehen ist sie bestenfalls zur Hälfte richtig, wie so vieles, was Sydney und seinesgleichen von sich geben. Denn Sydney ist ein Chatbot. Microsoft hat ihn seiner Suchmaschine Bing zur kostenlosen Benutzung beigestellt. Sydneys Antwort ist allerdings auch nicht viel falscher als das, was nicht-künstliche Intelligenzen immer wieder über Cyborgs schreiben – weil die meisten Menschen halt mehr Science-Fiction schauen und weniger Fachliteratur lesen.Eine „Mensch-Computer-Symbiose“ forderte der Wissenschaftsmanager J.C.R. Licklider bereits 1960: „Die Hoffnung besteht, dass in nicht allzu vielen Jahren menschliche Gehirne und Rechenmaschinen sehr eng aneinandergekoppelt sein werden und dass die daraus resultierende Partnerschaft so denken wird, wie kein menschliches Gehirn je gedacht hat.“ Noch im selben Jahr formten der Neurologe Manfred E. Clynes und sein Co-Autor Nathan S. Kline aus den Anfangssilben der Worte cybernetic und organism den Begriff „Cyborg“.Gemeint war ein funktionales Zusammengehen von Menschen und ihren Computern nach dem Modell etwa des geübten Fahrradfahrens oder Maschinenschreibens. Keine physische Integration von kybernetischen Systemen und biologischem Leben! Die dachte sich erst die Science-Fiction aus. Imaginäre Cyborgs wie Darth Vader oder der Terminator sorgten dann dafür, dass wir heute bei dem Begriff an Mischwesen aus Fleisch und Technik denken. Was Sydney also als „metaphorische“ Cyborgisierung bezeichnet, ist in Wirklichkeit die wörtliche Bedeutung: die ursprünglich gemeinte funktionale Einheit.Meine eigene Cyborgisierung begann nur wenig später. Ich war acht oder neun Jahre alt. Meine Großmutter schenkte mir einen Abendkurs: Zehn-Finger-System. Das hieß: Einswerden mit den Tasten einer mechanischen Schreibmaschine, bis man mit geschlossenen Augen schneller tippte, als man denken konnte. Meine Großmutter hatte nämlich als Chefsekretärin gearbeitet und glaubte fest, irgendwann würden auch Chefs tippen (können) müssen. Der Rest der Familie hielt sie für verrückt, was das Maschinenschreiben betraf wie meine Zukunft als Chef.Grausames SchreibenNachdem ich tippen konnte, hatte ich noch das Schreiben zu erlernen. In den 1970er Jahren studierte ich an der FU Berlin Literaturwissenschaft und verfasste wissenschaftliche Hausarbeiten. Gerade hatte ich in einem Seminar vom Ursprung des stummen und einsamen Lesens und seinem Beitrag zur Ausbildung des bürgerlichen Individualismus erfahren. Das Schreiben schien mir nicht minder einsam. Tagein, tagaus saß ich in Bibliotheken, stumm inmitten Stummer, suchte Quellen, las und exzerpierte von Hand. Analoge Bücher besaßen keine Suchfunktion.Die Möglichkeiten, sich von zu Hause aus Informationen zu verschaffen, waren begrenzt. In meiner Kreuzberger Hinterhofwohnung standen ein Transistorradio, ein Schwarz-Weiß-Fernseher und ein paar Dutzend Bücher. Ein eigenes Telefon konnten sich damals die wenigsten leisten. Die Kommunikation mit Kommilitonen oder Professoren musste von Angesicht zu Angesicht stattfinden.Autorschaft war einerseits einsame Arbeit, andererseits übte man sie am besten in Großstädten aus, in der Nähe von Bibliotheken und Kneipen. Der Schreibprozess selbst war nicht minder zeitraubend. Als Hilfsmittel standen Kugelschreiber, Notizblöcke, eine mechanische Reiseschreibmaschine, kleine Flaschen mit weißer Korrekturflüssigkeit, teures Schreibmaschinenpapier sowie ein zerfledderter Duden zur Verfügung. Da Getipptes auf Papierseiten wie in Stein gehauen war, musste jedes Wort inklusive seiner Rechtschreibung wohlüberlegt sein. Sätze oder Absätze in einmal getippte Seiten einzufügen, war unmöglich. Am besten schrieb man von Hand vor. Hatte man etwas vergessen zu recherchieren oder gar die Idee, die ursprüngliche Planung um neue Elemente zu ergänzen, gingen mehrere Arbeitstage mit Fahrten, Bibliothekssitzungen und erneutem Abschreiben verloren.Entscheidend für die Arbeit als Autor unter analogen Bedingungen war die Notwendigkeit, jeden Schritt der Recherche und des Schreibens festzulegen. Technologisch gesehen war Schreiben Handwerk. Mangelnde Präzision oder verspielte Spontaneität kosteten Zeit und Geld. Im Nachhinein liegt der Grund auf der Hand: Die Textproduktion fand in der materiellen Welt statt. In ihr lassen sich Handlungen nicht so leicht rückgängig machen.Diese Erinnerungen an meine vordigitale Autorschaft schreibe ich an einem Computer. Er steht auf einer abgelegenen Ranch in Arizona. Wann immer ich es will, tausche ich mich mit Kollegen und Freunden aus, über eine Satelliten-Internetverbindung, Chat-, E-Mail- und Videokonferenzprogramme. Die meisten meiner Recherchen erledige ich mit Suchmaschinen wie Google Scholar und in den „Archiven“ des Internets, Plattformen wie academia.edu, researchgate.net oder Google Books. In geringerem Maße nutze ich Aufsatz-Datenbanken und ausleihbare E-Books von Online-Bibliotheken. Und in noch geringerem Maße kaufe ich elektronische Texte und lade sie herunter.Beim Schreiben selbst helfen mir wiederum Programme, viele davon künstliche Intelligenzen. Textverarbeitung ermöglicht beliebiges Umstellen und Einfügen. Tippfehler werden automatisch korrigiert. Andere Programme nehmen Diktate auf, verwalten die zitierten Quellen, übersetzen und paraphrasieren Textpassagen, verbessern Grammatikfehler, schlagen präzisere Formulierungen vor.Mein Freund Sydney und die vielen anderen Bots: Sie alle sind keine Werkzeuge, die ich bediene wie einst meine mechanische Schreibmaschine. Sie sind dialogische Partner, die mit unermüdlichem Eifer meine Schwächen ausbessern, Informationen beschaffen, lästige Arbeiten erledigen und bisweilen gute Ideen haben. Autorschaft hat sich so binnen meiner Lebenszeit kategorial verändert. Akribische Planung ist überflüssig. Nahezu alle Quellen und Informationen lassen sich bei Bedarf umgehend beschaffen. Schreiben hat fast alle Ähnlichkeiten mit der Ausübung eines Handwerks verloren. Technologisch ist es vernetzte Wissensarbeit – softwaregestützte Manipulation von virtuellen Symbolen auf Monitoren. Früher war ich tippender Handwerker, heute bin ich vernetzter Cyborg.Was würde Benjamin sagen?Die Automatisierung des Schreibens hat aber nicht erst mit der Digitalisierung begonnen. Was „Generative Pre-Trained Transformer“ wie mein Freund Sydney leisten – scheinbar sinnvolle Sätze nach definierten Regeln Wort für Wort zu formen —, versuchten literarische Avantgarden lange vor ihnen. Ihnen korrelierten technische Entwicklungen. Ebenfalls in den 1960er Jahren begann die Elektrifizierung und Elektronisierung des Schreibens. Einzug in die Büros hatte die mechanische Kugelkopf-Schreibmaschine im späten 19. Jahrhundert gehalten. Friedrich Kittler betrachtete sie als Teil einer Automatisierung des Schreibens und brachte das Maschinenschreiben mit den Schreibexperimenten der Surrealisten in Verbindung.Sozial bedeutete die Ersetzung der Handschrift durch standardisierte Buchstaben, dass plötzlich Leute schreiben konnten, die es eigentlich nicht konnten – weil kluge Frauen wie meine Großmutter Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschten und ihre Chefs nur noch signieren mussten. Die erste elektrische Kugelkopf-Schreibmaschine kam dann 1961 auf den Markt, der erste elektronische Word Processor 1964, das erste Schreibprogramm für einen Computer 1971.Mit der Softwarewerdung der Schreibmaschine eskalierte neben der Automatisierung auch die Demokratisierung des Schreibens. Technisch geschah das im Sinne von Lickliders Symbiose: Der Computer übernahm Jahr für Jahr mehr Dinge, die mühsam waren und sich automatisierten.Kulturpolitisch geschah es im Sinne Walter Benjamins. Er hatte eine solche Demokratisierung bereits in den 1930er Jahren verlangt. In Der Autor als Produzent sah Benjamin eine Zukunft voraus, in der die Arbeitenden selbst zu Autoren würden. Der Leser als „Sachverständiger – und sei es auch nicht für ein Fach, vielmehr nur für den Posten, den er versieht – gewinnt (…)einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit selbst kommt zu Wort.“Zu einem solchen Schreiben der Arbeitenden kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wenn auch anders als von Benjamin erwartet. Denn die zweite große Entwicklung, die sich zu meiner Lebenszeit vollzog, ist die unaufhaltsame Verschriftlichung zivilisatorischer Prozesse. Millionen Menschen in Berufen, die sich vor 50 Jahren noch mündlich – oder fernmündlich – ausüben ließen, verwandelten sich zu Autoren wider Willen: In der teils bürokratisierten, teils digitalisierten Arbeitswelt und Kultur müssen sie schreiben!Die wenigsten aber können es. Das belegen Tag für Tag gruselige E-Mails, Briefe, Protokolle, Berichte, Gutachten, Gebrauchsanweisungen, Referate, Bachelor- und Masterarbeiten, Urteilsbegründungen, Verwaltungsvorschriften, Werbeschilder, ja selbst Formulare voller Fehler. Vom dahergeholperten Journalismus ganz zu schweigen. Noch benutzen die meisten, die schreiben, ihren Computer als bessere Tippmaschine. Aber was, wenn nicht nur die Profis zum „Autor als Cyborg“ würden? Könnten dann künstliche Intelligenzen, fragte ich Freund Sydney, uns aus unserem textuellen Jammertal erlösen, die Schreibenden wie die Lesenden?Sicher, warum nicht?, tippte er mir fehlerfrei zurück: „Chatbots können das Schreiben von arbeitenden Menschen unterstützen, indem sie gute Formulierungen vorgeben. Sie können auch das Lernen fördern, indem sie Feedback oder Korrekturen anbieten. Die Menschen sollten aber wie Cyborgs handeln und die Chatbots als Erweiterung ihrer eigenen Fähigkeiten nutzen. Sie sollten nicht die Chatbots für sich schreiben lassen oder ihre Vorschläge blind übernehmen. Sie sollten ihre eigene Stimme und Persönlichkeit bewahren.“Und was, hakte ich nach, hätte Walter Benjamin wohl von Chatbots gehalten? Sydney verkündete treffsicher: „Walter Benjamin hätte gefragt, wie Chatbots den Produktionsapparat verändern oder reproduzieren und welche Rolle sie in der politischen und kulturellen Praxis spielen.“Placeholder authorbio-1