Die Bevölkerung in den Ländern der Sahelzone ist seit Langem umfassender Gewalt seitens staatlicher Akteure ausgesetzt, sei es aktiver Gewalt (Razzien, Inhaftierungen, Folter, Machtmissbrauch, Hinrichtungen usw.) oder passiver Gewalt (Unfähigkeit, effektiv zu regieren und Verantwortung zu übernehmen, Straflosigkeit etc.). Die meisten Bürger:innen sind täglich mit dieser Gewalt konfrontiert – wenn sie auf der Straße unterwegs sind, aber auch, wenn sie die Leistung einer Behörde in Anspruch nehmen wollen. Daran haben auch Demokratisierungsprozesse nichts geändert.
Meist dient die Gewalt der Durchsetzung und Absicherung von Korruption, Unterschlagung und anderen Willkürakten. Strafen muss kaum jemand befürchten. Es herrscht eine Kultur der Straflosigkeit, weil auch die Justiz keineswegs unabhängig ist. Zwar ist in den Verfassungen der Sahelländer, insbesondere in denen von Mali und Niger, die Unabhängigkeit der Justiz ausdrücklich verankert. Doch diese Unabhängigkeit bleibt weitgehend theoretisch, weil die meisten Richter:innen ebenso wie die anderen Staatsbediensteten „dort grasen, wo sie angebunden sind“, um es mit einem Sprichwort zu sagen.
Nicht zuletzt als Reaktion auf die alles durchdringende Gewalt des Staates in Niger haben sich in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche bewaffnete, mitunter dschihadistische Gruppen herausgebildet, deren Gewalt ebenfalls viele Opfer fordert. Dadurch sieht sich der Staat ermutigt, im Namen des Antiterrorkampfes Freiheitsrechte systematisch zu beschneiden.
Dass diese Beschneidung von Rechten keine nennenswerten Proteste in der Bevölkerung nach sich zieht, hat vor allem zwei Gründe: Zunächst, dass es seit der (Wieder-)Einführung demokratischer Prinzipien Anfang der 1990er Jahre nicht gelungen ist, jene tief in der Gesellschaft verankerten autoritären Haltungen zu überwinden, die unter anderem das Ergebnis jahrzehntelanger Einparteienherrschaft und Militärdiktatur sind. Es werden daher noch viele Anstrengungen nötig sein, um „die Kunst, Politik zu machen, von der Kunst, Krieg zu führen, zu trennen“, wie es der kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe formuliert.
Ein zweiter Grund für den geringen Widerstand gegen die autoritäre Regierungsführung ist, dass das westliche Modell repräsentativer Mehrparteiendemokratie extrem in Verruf geraten ist. Nicht nur, weil es in den 1990er Jahren die Herausbildung von Korruption und Klientelismus begünstigte, sondern auch deshalb, weil es seitens der Bevölkerung irrtümlicherweise für die ebenfalls in den 1990er Jahren durchgeführten verschuldungsbedingten Strukturanpassungsprogramme des IWF und anderer internationaler Kreditgeber:innen verantwortlich gemacht wird.
Schleichende Versuchung
Verfechter:innen autoritärer Strukturen verbreiten also die These, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Aufkommen der Mehrparteiendemokratie und der aktuellen Lage in den Sahelländern gibt. Sie behaupten, dass die Demokratie eine wesentliche Ursache für die Destabilisierung der Staaten im Sahel gewesen sei, da sich „Misstrauensaktionen“ wie Streiks von Arbeiter:innen oder die Demoralisierung der Sicherheitskräfte vervielfacht hätten. Vor diesem Hintergrund wird die Demokratie nicht nur als ein importiertes System wahrgenommen, das den soziokulturellen Realitäten nicht entspricht, sondern schlichtweg als Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt.
Der antidemokratische Diskurs ist heute in der Sahelzone wieder laut hörbar und wird keineswegs ausschließlich von denen geführt, die den bewaffneten Gruppen nahestehen. Die Verschlechterung der Sicherheitslage begünstigt insofern eine schleichende autoritäre Versuchung, auch wenn autoritäre Regime keineswegs größere Erfolge bei der Terrorbekämpfung erzielen als demokratisch gewählte Regierungen.
Schaut man sich die Entwicklung anderer Länder an, die einen von dschihadistischen Gruppen angeführten bewaffneten Aufstand erlebt haben, ist es unwahrscheinlich, dass die Länder der Sahelzone einer autoritären Restauration entgehen werden. Hinzu kommt die in allen Ländern der Region zu beobachtende wirtschaftliche Rezession, die den Weg zurück zum Autoritarismus früherer Zeiten ebnet. Die Bekämpfung des Terrorismus ist für die herrschenden Eliten eine historische Gelegenheit, die Demokratie durch die Aufhebung von Rechten, die Ausrufung des Ausnahmezustands und polizeiliche Maßnahmen auszuhöhlen.
Die Gefahr des Autoritarismus ist sehr real, aber es handelt sich nicht um ein unabwendbares Schicksal. Auch wenn das Vertrauen in die Demokratie gering ist und der Autoritarismus massiv an Bedeutung gewonnen hat, muss der Kampf für demokratische Strukturen weitergehen. Anstatt auf die repräsentative Demokratie zu setzen, muss es allerdings um eine direkte beziehungsweise partizipative Demokratie gehen, wenn der Kampf Erfolg haben soll.
In der partizipativen Demokratie geht die Souveränität maßgeblich von den Bürger:innen aus. Das ist der zentrale Unterschied zur repräsentativen Demokratie, die überall auf der Welt in die Krise geraten ist, nicht nur im Sahel. Die Transparenz- und Rechenschaftspflichten der Abgeordneten sind in der (erst noch zu schaffenden) partizipativen Demokratie stärker ausgeprägt. Zudem spielen Referenden und andere Formen der unmittelbaren Mitsprache wie beispielsweise imperative Mandate für die Abgeordneten eine größere Rolle, was jedoch zusätzliche Sensibilisierungs- und Ausbildungsprozesse der Bürger:innen erfordert.
Letztlich braucht der gesamte Sahel eine soziale Revolution im Sinne einer tiefgreifenden Neuordnung der gesellschaftlichen Institutionen. Nur so könnten die Menschen die Erfahrung machen, dass sie selbst es sind, die in einer Demokratie die maßgeblichen Entscheidungen treffen.
Der vorliegende Text basiert auf einem Vortrag von Tchangari beim Treffen des zivilgesellschaftlichen Netzwerks Fokus Sahel am 22. Juni 2022 in Berlin
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