STRASSBURGER ENTSCHEIDUNG ZUM "FALL KRENZ" Konsequenzen für eine juristische Ahndung des NATO-Krieges gegen Jugoslawien oder anderer Formen staatlicher Kriminalität sind offensichtlich
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Streit um die Strafbarkeit wegen der Tötung von Flüchtlingen an der Grenze der DDR zur BRD einen juristischen Schlusspunkt gesetzt. Egon Krenz, Heinz Keßler und Fritz Streletz blieb mit ihren Beschwerden gegen rechtskräftige Verurteilungen durch bundesdeutsche Gerichte der Erfolg versagt. Diese Urteile verstoßen nach Auffassung des EGMR nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, wonach niemand wegen einer Handlung verurteilt werden kann, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war.
Die Straßburger Entscheidung überrascht vor allem in ihrer Begründung. Nach dem Verständnis des EGMR ist Recht im Sinne von Art.
MR ist Recht im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention nur rechtsstaatliches Recht, wozu die Rechtfertigungsgründe für Handlungen an der DDR-Grenze nicht gehören würden. Im Hinblick auf die DDR-Rechtslage haben die 17 Richter - darunter sechs aus Osteuropa - einstimmig befunden, dass mit der Tötung von flüchtenden DDR-Bürgern gegen DDR-Recht verstoßen wurde. Die Verfassung, das Strafgesetzbuch und andere Gesetze der DDR enthielten das Gebot, menschliches Leben zu schützen. Die dem entgegenstehende Rechtsauslegung und Staatspraxis an der Grenze müsse sich daran messen lassen, hieß es. Das ist in Wirklichkeit eine naturrechtliche Auffassung, die besagt, das Rückwirkungsverbot schützt politische Machthaber bei von ihnen zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen nicht. Die Entscheidungen des EGMR befinden sich damit im Trend international immer stärker zu beobachtender Bemühungen, Menschenrechte durch das Strafrecht effektiver zu schützen. Die naturrechtliche Botschaft aus Straßburg lautet: Keinem Staat ist es erlaubt, seine Grenzen dadurch zu schützen, dass Menschen, die lediglich ihr Land verlassen wollen, getötet werden. Galt dies jedoch auch schon zum Zeitpunkt der Todesfälle an der deutsch-deutschen Grenze? Naturrechtlich gesehen muss diese Frage bejaht werden. Die Feststellung, dass die Praxis an der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten rechtwidrig nach DDR-Gesetzen und auch völkerrechtswidrig war, ist insoweit die unvermeidbare Konsequenz.Lässt sich daraus aber zugleich ableiten, dass damit die individuelle Strafbarkeit zum Tatzeitpunkt für Krenz, Keßler und Streletz ausreichend erkennbar war? Der EGMR hat auch dies bejaht. Die Beschwerdeführer hätten vorhersehen können, dass sie sich strafbar machen und auch verurteilt werden können. Diese Schlussfolgerung ist besonders dann problematisch, bedenkt man das konkrete DDR-Rechtsverständnis und die Situation zum Tatzeitpunkt. Die in den Gesetzen der DDR enthaltenen Einschränkungen des Rechts auf Leben resultierten nicht unwesentlich daraus, dass die Ost-West-Konfrontation auch ein völlig unterschiedliches Verständnis von Menschenrechten einschloss: hier die realsozialistische Auffassung von der Entfaltung der Persönlichkeit unter Gemeinschafts- (Kollektiv- und Staats-) Bezug bei gleichzeitiger Verabsolutierung des sozialen Charakters der Menschenrechte - dort die auf individuelle Freiheit des Einzelnen ausgerichtete Garantie bürgerlicher und politischer Rechte. In der DDR galt folgerichtig nicht der rechtsstaatliche Grundsatz, wonach das Recht die politische Macht zu begrenzen hat und die Freiheitsrechte des Einzelnen Abwehrrechte gegen den Staat sind. Obwohl die DDR sowohl den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert hatte, als auch in ihrem Strafgesetzbuch eine individuelle Strafbarkeitsbegründung bei der Verletzung völkerrechtlicher Pflichten stehen hatte, war dies nicht mit einem Wandel des Menschenrechtsverständnisses verbunden - etwa mit der Konsequenz, die Staatspraxis an der Grenze zu ändern. Man berief sich stattdessen auf internationale Regeln, nach denen es erlaubt sei, das Recht auf Leben an Staatsgrenzen einzuschränken, und nach denen keine absolute Freizügigkeit gelte.Schwerwiegendes naturrechtliches ArgumentEs wäre zu wünschen gewesen, dass Straßburg seine Entscheidung nicht ohne vergleichende Analysen der heutigen Staatenpraxis bei Grenzsicherungssystemen wie auch nicht ohne einen internationalen Vergleich hinsichtlich des Rechts auf Freizügigkeit getroffen hätte. Bezogen auf die konkret-historische Situation der DDR-Grenze zur BRD hätte außerdem bedacht werden müssen, dass es sich bei diesem Grenzregime um eine Manifestation des Eisernen Vorhangs im Kalten Krieg handelte - geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen feindlichen Militärblöcken. Allerdings konzediert der Gerichtshof, dass die DDR das Recht hatte, Grenzdurchbrüche zu unterbinden, um ihre durch die massive Auswanderung gefährdete Existenz zu gewährleisten. Grenzsicherung habe jedoch nicht durch die Tötung von flüchtenden DDR-Bürgern erfolgen dürfen. Dies nun ist das schwerwiegendste naturrechtliche Argument, an dem nicht vorbeizukommen ist: Der Schutz der Staatsgrenze durfte nicht über den Schutz menschlichen Lebens gestellt werden. Wenn es richtig ist anzunehmen, dass bei Durchlässigkeit der Grenze zur BRD die DDR letzten Endes schon früher zu Grunde gegangen wäre, kann dies nur folgendes bedeuten: Die DDR hätte nicht um den Preis von Tötungen an der Staatsgrenze zur BRD aufrechterhalten werden dürfen. Doch es fällt schwer, sich ernsthaft vorzustellen, dass diese naturrechtliche Konsequenz die historische Situation und die politische Realität, in der die DDR entstand und sich entwickelte, außer Kraft zu setzen vermochte. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass zum Tatzeitpunkt ein auch von westlicher Seite anerkanntes politisch-militärisches Kräftegleichgewicht bestand. In dieser Lage und vor dem Hintergrund des festgefügten staatssozialistischen Menschenrechtsverständnisses wurde der Staat DDR von seiner Führung und den Grenzsoldaten durch die Praxis an der Grenze aufrechterhalten. Dies lässt die Aussage Straßburgs als zweifelhaft erscheinen, die Beschwerdeführer hätten die Strafbarkeit ihres Handelns auf der Grundlage rechtsstaatlich ausgelegten Strafrechts erkennen können.Die Begründung der EGMR-Entscheidung enthält für die Sache eines Menschenrechtsschutzes durch Strafrecht Passagen, die weit über die Todesfälle an der DDR-Grenze hinausreichen. Da ist zum einen die Feststellung, dass der Rechtsstaat legitimiert sei, Strafverfahren gegen Personen zu betreiben, die Verbrechen unter einem früheren Regime begangen haben. Das hat unmittelbare Bedeutung für die Aufarbeitung der Vergangenheit in osteuropäischen Staaten, in denen es nach dem Systemwechsel bisher weitaus weniger strafrechtliche Verfolgung gab als in Deutschland. Zum anderen sollen die Machthaber eines politischen Systems nicht uneingeschränkt darauf vertrauen dürfen, dass die von ihnen vorgenommenen systemimmanenten Straffreistellungen auf ewig Bestand haben: Ein Plädoyer gegen Straflosigkeit bei schweren Menschenrechtsverletzungen.Symbolischer zivilisatorischer GewinnEs wäre daher verfehlt, würden sich Regierungen in rechtsstaatlichen, demokratischen Systemen davon nicht angesprochen fühlen. So bestätigt sich Justiz und Politik der Bundesrepublik angesichts der Anerkennung ihrer Verfolgungspraxis in Sachen DDR-Grenzregime durch Straßburg auch fühlen mögen, zur Selbstgerechtigkeit hinsichtlich der Einhaltung von Menschenrechten besteht kein Anlass. Auch Politiker in demokratischen Systemen werden sich eines Tages gefallen lassen müssen, dass sich der Menschenrechtsschutz durch Strafrecht gegen sie wendet. Denkt man an das Recht auf Leben, so sind vor allem die Regelungen und Staatspraxis an den Grenzen westlicher Länder und die Gewährleistung von Freizügigkeit zu prüfen. Selbst wenn es derzeit als Utopie erscheinen mag, liegt in dem naturrechtlichen Kontext der Straßburger Entscheidung auch die Konsequenz, unter dem Gesichtspunkt eines strafrechtlichen Menschenrechtsschutzes Verbrechen während des völkerrechtswidrigen NATO-Krieges gegen Jugoslawien untersuchen zu müssen. Gleiches würde für Rüstungsexporte in Gebiete gelten, in denen Menschenrechte unterdrückt werden. Oder die Inkaufnahme des Verlustes von menschlichem Leben - hervorgerufen durch eine inhumane Abschiebepraxis von Asylsuchenden. Erst wenn Menschenrechtsschutz durch Strafrecht sich gegen die Ubiquität staatsverstärkter Kriminalität richtet, kann davon gesprochen werden, dass in der Entscheidung des EGMR nicht nur ein symbolischer zivilisatorischer Gewinn liegt. Eine symbolische Aussage allein wäre fragwürdig, weil dann nicht ausgeschlossen werden könnte, dass es sich in Wahrheit um eine politische Entscheidung über die Strafbarkeit von Tötungen an der einstigen Grenze zwischen beiden deutschen Staaten handelt.Privatdozent Dr. Jörg Arnold ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.
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