Der Kunstraum in Zeiten politischer Polarisierung
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In seinem 2004 erschienenen Buch Malaise dans l’esthétique behauptet der Philosoph Jacques Rancière, dass die Kunst Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von einem repräsentativen Regime, das sie bis dahin bestimmt hatte, befreit wurde und dass die Politik seitdem einem repräsentativen Regime entspricht. Während die Kunst formal frei wurde, wurde die post-revolutionäre, demokratische Politik einer repräsentativen Disziplinierung unterworfen. Ein doppelter Regimewechsel. Die Kunst wurde der Bereich der Radikalität par excellence, während die Politik Repräsentation betreiben sollte. Man könnte den Eindruck haben, dass diese Arbeitsteilung zwischen Kunst und Politik heute dazu führt, dass viele in der repräsentativen Demokratie eine gewisse Radikalität vermissen.
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Seit der Installation des Regimes der repräsentativen Politik gilt die Revolution ideologisch als überholt, obwohl – oder gerade weil – sie selbst das Kind der zweitgrößten Revolution aller Zeiten ist. Schon seit Jahrzehnten wird derjenige, der Visionen hat, zum Arzt geschickt. Wenn die Visionen jedoch hartnäckig sind und über die Revolution geschwärmt wird, dann bleibt nur noch eine besonders drastische Maßnahme: die Aufnahme in die Kunsthochschule. So zumindest wird in der repräsentativen Demokratie versucht, das Begehren nach Radikalität zu neutralisieren: Was auch immer an revolutionären Gedanken aufkommt, wird in Kunst verwandelt und in der Folge so lange als Kunst verhandelt, bis das revolutionäre Werk in der Lobby der Wealth-Management-Abteilung einer Bank als Beispiel für ein schlaues Investment herhalten muss. Radikalität können sich nur die wenigsten leisten.
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Jetzt gibt es jedoch viele, die meinen, man könne die Radikalität nicht länger aus dem Bereich der Politik verbannen. Wir alle wollen doch eine Revolution, oder? Auf der Spielwiese der Radikalität haben Künstler*innen tatsächlich schon längst Gesellschaft bekommen. Mit einigen versteht man sich sehr gut, mit anderen viel weniger. Man kann ja in sehr unterschiedlichen Richtungen „radikal“ sein. Seit einigen Jahren erscheinen in Paris radikale politische Manifeste anonymer Kollektive. So erschien 2007 L’insurrection qui vient von Le comité invisible. Die kleinen Bücher der Pariser Anonymen erfreuen sich weltweit, so auch in Deutschland, großer Beliebtheit bei Philosoph*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen und wahrscheinlich auch bei einigen Politiker*innen. Was in Paris noch wie die geheimnisvolle Ankündigung eines quasi-metaphysischen Ereignisses anmutete, klingt eine Dekade später in Berlin wie ein Befehl, der in vielen traumatischen Kindheitserinnerungen nachhallt: Aufstehen!
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Der Verleger Eric Hazan hat in den vergangenen Jahren, zusammen mit einer Gruppe „anonymer französischer Revolutionäre“, die sich selbst „Kamo“ nennen, die „ersten Maßnahmen des kommenden Aufstandes“ verkündet: Premières mesures révolutionnaires: après l’insurrection (2013). Statt aufzustehen, kann man auch einfach mal ... nicht schlafen gehen. Nicht die Frühaufsteher, sondern die Nachtschwärmer sind in Frankreich das neue revolutionäre Subjekt. Waren nicht 2015 die als „Nuit debout“ bekannt gewordenen nächtlichen Proteste in Paris eine Episode des Aufstandes? Sowohl Franco „Bifo“ Berardi in seinem Buch The Uprising (2012) als auch Giorgio Agamben in seinem Buch La Guerre civile (2015) suggerieren, dass ein gewalttätiger Aufstand bereits begonnen hat. Wenn dieser Aufstand gewalttätig ist, haben dann diejenigen, die gewaltlosen Widerstand gegen Unrecht befürworten, schon verloren? Während die im Kunstfeld am meisten hofierten Philosophen, von Agamben über Badiou und Negri bis Žižek, sich radikal von der repräsentativen Demokratie abwenden, ohne dass sich die Mehrheit der Künstler*innen darüber auch nur eine Sekunde aufregt, soll unserer Meinung nach, im Sinne von Mouffe, Laclau oder Marchart, ein Plädoyer für eine radikal-repräsentative Demokratie entwickelt werden. Statt dass in reaktionären Auftritten von Politiker*innen Radikalität repräsentiert wird, soll die Repräsentation radikalisiert werden. Während viele sich schwertun, EU-Bürger*innen mehr als nur lokale Wahlrechte zuzugestehen, würden wir auch Flüchtlingen Wahlrechte geben wollen. Es würde die Demokratie dazu verpflichten, nicht nur über Flüchtlinge, sondern auch mit Flüchtlingen zu reden.
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Es geht in der sogenannten repräsentativen Demokratie nicht darum, dass gewählte Politiker*innen nur ihre Wähler*innen repräsentieren. Es geht vor allem darum, dass das politische Mandat in der repräsentativen Demokratie als Aufgabe verstanden wird, Tatsachen so zu repräsentieren, dass alle Wähler*innen diesen Darstellungen zustimmen können. Gewählte Politiker*innen sind in der repräsentativen Demokratie also in mehrfacher Hinsicht Repräsentant*innen. Dabei werden ihre Darstellungen in politischen Debatten ständig in dem einen oder anderen Sinne und dabei manchmal unkorrekt dargestellt. Damit gibt es immer auch Darstellungen von Darstellungen, die dann selber auch wieder in dem einen oder anderen Sinne dargestellt werden. Im Prinzip können sich alle an der Darstellung von Tatsachen beteiligen und damit in politischen Debatten einmischen.
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Die herrschende Politik bemüht sich so sehr um Darstellung, dass man sie als Kampf um die Darstellung definieren könnte. Dieser Kampf trägt zuweilen manipulative, propagandistische und ikonoklastische Züge. Wenn es zu politischen Entscheidungen kommen soll, ist es letztendlich entscheidend, welche Darstellung der Sachverhalte sich durchsetzen kann. Selbstverständlich könnte man behaupten, die Repräsentation der Politik als Repräsentationskampf ist eben selber auch eine Repräsentation (der Politik), die mit anderen Repräsentationen (der Politik) in einen Kampf verwickelt ist. Es gibt keinen Kampf um Repräsentation ohne Repräsentation dieses Kampfes. Man bestreitet nicht nur die Repräsentation des Anderen. Man stellt den Anderen auch auf eine bestimmte Weise dar.
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Sobald Kunst Darstellungen produziert, wirkt sie in die Gesellschaft. Insofern ist Kunst immer politisch, was immer auch dargestellt wird. Damit betritt die Kunst den Raum der Politik, die als Darstellungskampf der Raum der konfliktreichen Begegnung von unterschiedlichen Darstellungen ist. Jeder Kunstraum ist ein Raum in diesem Raum, der die Politik ist. Die künstlerischen Darstellungen die der Kunstraum präsentiert, können soziale Fragen stellen oder auch nicht. Auch künstlerische Darstellungen, die explizit keine sozialen Fragen stellen, wirken dennoch politisch, weil Kunst von der Gesellschaft betrachtet und reflektiert wird.
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Demokratie ist der Name eines politischen Raumes, in dem Darstellungen radikal miteinander zusammenstoßen können und die politischen Entscheidungen fürs Kollektiv nach Ritualen wie Wahlen zustande kommen, die das weitere, produktive Zusammenleben der Darsteller*innen innerhalb des Kollektivs ermöglichen. Voraussetzung ist, dass die entscheidende Gewalt der Rituale akzeptiert wird. Voraussetzung für diese Akzeptanz wiederum ist, dass der Raum, in dem diese Rituale ihre entscheidende Gewalt entfalten, von umfassender kultureller und künstlerischer Freiheit, Chancengleichheit und Respekt für Minderheiten gekennzeichnet ist, die die Gewalt der Entscheidung streng limitieren sollen. Ein politischer Raum, in dem Oppositionspolitiker*innen inhaftiert werden, Frauen nicht wählbar sind, die Kunst nur dekorativ sein darf oder Minderheiten respektlos behandelt werden, hat keinen Anspruch darauf, Demokratie genannt zu werden, und schon gar nicht eine radikal-repräsentative Demokratie.
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Der herrschenden Politik geht es darum, die Gesellschaft so darzustellen, dass sie auch regiert werden kann. Sie liefert auch eine Artikulation der Komposition der politischen Gesellschaft. Diese Artikulation bestimmt, wer eingeschlossen und wer ausgeschlossen wird. Besonders problematisch ist es, wenn die Ausschließung schon durchgeführt wurde, noch bevor sie beschlossen wurde. Man redet unter Deutschen, die sich selbst zu Deutschen erklärt haben, darüber, was es bedeutet, deutsch zu sein. Nun öffnet das Ausgeschlossenwerden im Prinzip paradoxerweise die Möglichkeit dafür, dass die Ausgeschlossenen sich politisch konstituieren und an der Politik als Nichtteilhabende teilhaben. Als ein Raum im Raum der Politik kann ein Kunstraum Raum schaffen für die politische Teilhabe von Ausgeschlossenen. Ein Kunstraum kann einen Anfang damit machen, die Ausgeschlossenen einzubeziehen, und zwar so, dass sie eine Stimme bekommen, sich als gesellschaftliches Subjekt konstituieren können.
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So wie der industrielle Kapitalismus die Klasse derjenigen produzierte, die kaum etwas anderes hatten als ihren Nachwuchs (das Proletariat, die Proletarier*innen), produziert ihrerseits die rein liberale Demokratie die Klasse derjenigen, die kaum etwas anderes haben als ihre Stimme. Die Klasse derjenigen, die kaum etwas anderes haben als ihre Stimme, könnte man das Elektoriat nennen, die Mitglieder dieses Elektoriats die Elektarier*innen. Es gibt jedoch auch diejenigen, die keine Stimme haben und daher auch nicht zum Elektoriat gehören: das Subelektoriat. So braucht man nur noch die Klasse derjenigen, die in der rein liberalen Demokratie die Ausdrucksmittel des Darstellungsapparates beherrschen oder besitzen, als die Klasse der Demokratisten zu bezeichnen, damit das Basisvokabular einer analogen Klassensprache zur Verfügung steht, mit der die rein liberale Demokratie analysiert werden kann. Der von Demokratisten beherrschte Darstellungsapparat gewährt dem Demokratismus eine größtmögliche Resonanz und Hegemonie. In diesem Kontext ist ein kleiner Kunstraum ein Produktionsapparat von kontrahegemonialen Darstellungen. Umso wirksamer der kleine Kunstraum, desto größer jedoch auch das Risiko der politischen Neutralisierung durch Vereinnahmung. Der Kampf für einen Kunstraum, der politisch wirkt, ist daher auch immer der Kampf gegen seine politische Neutralisierung.
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Auf die Repräsentation der Radikalisierung, welche eine reaktionäre Politik betreibt, antwortet antireaktionäre Kunst mit der Radikalisierung der Repräsentation.
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