Einzelkämpfer Der Politiker Nicolas Hulot ist das grüne Gewissen Frankreichs. Nach Fukushima glaubte er an einen Atomausstieg. Er musste feststellen, dass er der einzige war
Als die Welt aus den Fugen geriet, der Tsunami über die Ostküste raste und die Temperatur im Atomkraftwerk Fukushima minütlich anschwoll, reiste Nicolas Hulot durch den brasilianischen Urwald. Bepackt mit Rucksack, Fotoapparat und Trockennahrung wanderte der französische Grünen-Politiker durch Täler, die ein neuer Staudamm bald austrocknen würde. An diesem schwülen Märzmorgen klingelte sein Satellitentelefon und in kurzen abgehackten Sätzen erfuhr er von der Atomkatastrophe in Japan. „Da stand ich und sah auf die abgeholzten Wälder, hörte von der nuklearen Zerstörung und dachte: Die Menschheit ist verrückt geworden.“
Hulot ist der bekannteste Umweltschützer Frankreichs. In einem Land, in dem die Grün
Grünen aktuell zwischen zwei und drei Prozent der Stimmen erreichen, hat es Hulot mit seinen Ökothemen bis in die Abendsendungen der großen TV-Kanäle geschafft. Er zeigte die letzten Krokodile der Sahara, stürzte sich in austrocknende afrikanische Seen und ritt durch bedrohte Täler in Mosambik. Am 6. März 2011 war er unterwegs zu einem neuen Abenteuer. Fotografierte in Brasilien Bilder von jahrhundertealten umstürzenden Bäumen und vor Trockenheit aufgerissenen Böden. Sah, wie fruchtbarer Wald gerodet wurde, um Futter für europäisches Schlachtvieh anzubauen.Während Millionen Europäer im Minutentakt die bestürzenden Bilder von Fukushima gezeigt bekamen, starrte Hulot auf sein Satellitentelefon. „Ich fühlte mich wie in einem Alptraum. Ich wartete auf Nachrichten und gleichzeitig hatte ich Angst vor ihnen.“ In der tropischen Hitze des Regenwaldes wankte eine von Hulots Überzeugungen: Dass die Atomkraft alternativlos sei. Nur sie könne Energie produzieren, ohne gleichzeitig Kohlendioxid in die Atmosphäre zu pusten und die Ozonschicht zu durchlöchern, glaubte er lange. Ohne Bilder gesehen zu haben, malte sich Hulot in Amazonien die schmelzenden Brennstäbe von Fukushima aus und hatte die Bilder von krebskranken Kindern aus Tschernobyl vor Augen.„Niemals, niemals hätte ich gedacht, dass ein modernes und politisch stabiles Land wie Japan einen Super-GAU erlebt“, sagt der 57-Jährige heute. „Diese Überzeugung wurde innerhalb weniger Minuten pulverisiert.“ Noch immer sieht er fassungslos aus und guckt etwas hilflos über seine randlose Brille. Auch wenn Hulot in seinen Sendungen mal als braungebrannter Abenteurer, mal als einsamer Cowboy und Extremsportler aufgetreten ist, könnte er mit seinem fransigen Ponyschnitt auch ein durchschnittlicher französischer Angestellter sein, der morgens mit Aktentasche in eine der Pariser Metrolinien steigt und abends mit Freunden Fußball guckt.Frankreich ist mit 59 Atomreaktoren das Land mit dem dichtesten Meilernetz der Welt. Mehr als 75 Prozent der Energie im Nachbarland wird mit Atomanlagen erzeugt. Und bislang wollen weder Präsident Nicolas Sarkozy noch die Opposition von der Kernenergie abrücken. „Fukushima war eine tragische Demonstration der menschlichen Grenzen“, sagt Hulot, „leider hat der Schock nicht viel bewirkt“.Erste ZweifelAls er aus dem Dschungel zurückkehrte, beobachtete er bei seinen Landsleuten zum ersten Mal Zweifel. „Selbst die dogmatischsten Atombefürworter waren verunsichert“, so Hulot. Das habe ihn getröstet. „Ich dachte – wenn wir jetzt alle umdenken, dann war die Tragödie nicht umsonst.“ Der deutsche Atomausstieg, den Bundeskanzlerin Angela Merkel quasi über Nacht beschloss, rüttelte die Franzosen zusätzlich auf. In Frankreich gilt Deutschland mit seinen hohen Exportzahlen und seiner vergleichsweise niedrigen Arbeitslosenquote als Musterbeispiel. Alle Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im kommenden April loben das Nachbarland, Sarkozy ließ sich schon mehrfach mit seiner „Freundin Angela“ in Szene setzen. Aber schnell wandelte sich das Blatt. Die Debatte verstummte. Heute lässt sich Sarkozy noch immer gern mit Merkel ablichten, aber er betont auch gern die Unterschiede in der Energiepolitik.Hulot war niemand, der schon als Jugendlicher Frösche über die Straße getragen hätte. 1980 wurde er sogar Zweiter beim Autorennen Paris-Dakar in der LKW-Klasse. Sein Vater Philippe war ein Glücksritter. Hulot senior suchte in Venezuela nach Gold, betrieb später im südfranzösischen Nizza Obstplantagen und in Paris eine exklusive Konfiserie. So abwechslungsreich wie sein Vater startete auch der Junior ins Leben: Er arbeitete als Strandpächter, Segelschullehrer, Kellner und schließlich als Fotograf. Seine nach der südamerikanischen Stadt „Ushuaia“ benannten Fernsehserie machte ihn 1987 berühmt. Auch wenn es ihm in der Sendung zunächst um Naturphänomene und extreme Ereignisse ging, war Hulot schon damals bestürzt von der zerstörerischen Spur der Menschen in der Umwelt: Mehr und mehr appellierte er an das Gewissen seiner Zuschauer.Hulot macht es nervös, dass sein Staatsoberhaupt auch nach den tausenden verstrahlten Menschen von Fukushima, den schmelzenden Brennstäben und der noch immer unbetretbaren Zone um die zerstörten Meiler gänzlich unbeeindruckt ist. Tatsächlich macht Sarkozy sogar Wahlkampf mit seiner Meilerliebe: Zuletzt besuchte er mehrere Atomkraftwerke im Nachbarland und ließ sich von den Arbeitern feiern. Undenkbar, dass Merkel wie Sarkozy in der grenznahen Anlage Fessenheim, 30 Kilometer von Freiburg entfernt, flammende Reden auf die Atomkraft hielte.Hulot ist mit seiner Denkweise in Frankreich an den Rand der Debatte gerutscht. Er wird in Fernsehshows eingeladen, um die deprimierenden Prognosen für seine innerparteiliche Konkurrentin Eva Joly zu kommentieren, aber seine atomkritischen Worte möchte zurzeit niemand hören. Vielleicht, weil diese Seite zu neu ist für seine Anhänger. Die Zuschauer liebten die Mischung aus Abenteurer und Naturfreund. Tatsächlich scheint Hulot die Katastrophe persönlich stark verändert zu haben. „Nach Fukushima bin ich in eine tiefe Depression gestürzt“. Seine Sendungen sprühten früher vor Optimismus. Auch wenn er darin erzählte, wie Menschen hollandgroße Wälder abholzen, Gift in Flüsse leiten und die letzten Nester von seltenen Vögeln zubetonieren, zeigte Hulot immer einen freundlichen Ausweg. Er stellte der kranken Erde immer eine gute Prognose.Heute ist er ernster geworden. „Die Lage ist radikal. Wir müssen alles ändern“, sagt er. Unser Wirtschaftssystem sei gescheitert, der Kapitalismus könne nur mit strengen Regeln überleben. Hulot fordert, das Wachstumsdogma fallen zu lassen. „Das ewige Wachstum ist eine Lüge“, sagt er. Wenn er Präsident wäre, würde er für geregeltes Schrumpfen sorgen: „Alte Industrien müssten ihre Wirtschaftszahlen kräftig eindampfen. Dafür fördert der Staat mit geringen Steuern und Subventionen grüne Technik.“ Dazu müsse die „Geldmaschine“ verstaatlicht werden und die Zentralbank Kredite für umweltfreundliche Firmen vergeben.Hundert DemonstrantenSeine Ideen sind nicht brandneu. Die Fundi-Ecke der deutschen Grünen hegt schon lange dieselben Vorstellungen. Aber Hulot galt in seiner eigenen Partei vielen als Weichei, als opportunistisches Fernsehsternchen. Nicht wegen seiner zuvor positiven Haltung zur Atomkraft – die wurde bei den französischen Grünen durchaus geteilt. Nein, Hulot hatte bei den Vorwahlen der Grünen im Frühjahr 2011 angedeutet, mit ökologieinteressierten Politikern anderer Parteien zusammen zu arbeiten, beispielsweise mit dem früheren Umweltminister von Sarkozy, Jean-Louis Borloo. Das hat ihm letztendlich den Posten als Präsidentschaftskandidat gekostet. Nun hält statt Hulot die Europaabgeordnete Eva Joly für die Grünen die Fahne hoch. Aber in Frankreich hat die Umwelt keine Konjunktur. Joly wird von nicht mehr als drei Prozent der Franzosen gewählt werden.Dabei ist ihre Partei die einzige, die einen vollständigen und zeitnahen Atomausstieg fordert. Die Grünen wollen langsam unabhängig werden von der nuklearen Energie, die Sozialdemokraten wollen irgendwann aussteigen und bis dahin den Anteil an Wind- und Sonnenkraft erhöhen. Die Konservativen dagegen halten weiter am Atomstrom fest. Frankreich ist damit auf dem stand wie Deutschland vor 25 Jahren. Nur, dass Helmut Kohl Nicolas Sarkozy heißt und der verstorbene SPD-Kandidat Johannes Rau und seine Industrieseligkeit vom Sozialisten François Hollande repräsentiert wird.Nicolas Hulot macht die langsame Wandlung seines Landes Sorgen: „Wir befinden uns in der schlimmsten Phase der Weltgeschichte und niemand redet darüber.“ Er, der bekehrt aus Amazonien heimkehrte, sieht heute dasselbe atomare Dogma walten wie vor der japanischen Katastrophe. „Ich habe sogar den Eindruck, die Atomlobby hat es nach dem GAU noch leichter“. Die frühere Chefin des Pariser Konzerns Areva, ein internationaler Lieferant für die Technik von Atomkraftwerken, behauptet beispielsweise bis heute, Fukushima sei eine Naturkatastrophe gewesen.„Wir werden alle schon als Kind in die Propaganda-Maschine der Nuklear-Energie getaucht“, sagt auch Adelaide Coline von Greenpeace Frankreich. Sie selbst habe als Schulkind Ausflüge zu den Meilern unternommen, bei denen die Lehrer Frankreichs Stärke und Unabhängigkeit durch die „nie enden wollende“ Atomkraft anpriesen. Die technische Elite des Landes geht bis heute durch die gleiche Schule. Die angesehene Ingenieurshochschule „Ecole des Mines“ in Paris bildet künftige Leiter des noch immer mehrheitlich staatlichen Stromkonzerns EDF aus. Das Hochschulsystem in Frankreich ist hierarchischer als jenes in Deutschland, und so speisen sich die Kader aus der immerselben Schmiede. Das Atomdogma belebt sich täglich selbst.Und doch hat Fukushima auch in Frankreich etwas bewirkt. Bei dem letzten Atomtransport vom französischen La Hague ins deutsche Gorleben im November 2011 waren zum ersten Mal auch einige hundert Franzosen an den Gleisen aktiv. Nicolas Hulot war nicht dabei. Er ist überrascht über die Frage. Ein Straßenkämpfer sei er nicht. „Aber ich werde mit meiner Stiftung eine Kampagne für den Ausstieg organisieren“, sagt Hulot. Seitdem er sich aus der Politik verabschiedet hat, arbeitet er wieder hauptberuflich für seine „Fondation pour la Nature et l’Homme“ („Stiftung für Mensch und Natur“). Anfang März veröffentlichte sie eine Studie darüber, wie Solarenergie die Atomkraftwerke Frankreichs langfristig ersetzen kann. Eine Meldung, die im Wahlkampfgetöse unterging.Hulot hat es heute schwerer, die Franzosen für seine Idee zu begeistern. „Unsere Gesellschaft zappt durch die Welt, ein Ereignis jagt das andere. Da ist es sehr schwierig, selbst mit alarmierenden Bildern die Menschen aufzuschrecken“, sagt Hulot. Er wirkt ein wenig resigniert. Schließlich hat er jahrzehntelang genau das versucht – mit erschreckenden, bunten und oft auch alarmierenden Bildern die Zuschauer zu beeinflussen. „Wenn wir einen neuen Präsidenten haben, möchte ich eine Debatte über die Energiewende starten. Ob wir das schaffen? Ich weiß es nicht.“Er sei seit mehr als zwanzig Jahren engagiert, aber es sei so schrecklich schwierig, Dinge zu ändern. „So viel Energie für so wenig Erfolg.“ Hulots tiefe Fernsehstimme wirkt wie schon so häufig in diesem Gespräch etwas kleinlaut.
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