Lädierter Musterknabe

TSCHECHIEN Sanfte Transformation in die sanfte Krise

Er träume von einer "selbstständigen, freien, demokratischen, wirtschaftlich prosperierenden und zugleich sozial gerechten Republik", meinte Vaclav Havel in einer Ansprache vor genau zehn Jahren, "von einer menschlichen Republik, die dem Menschen dient und deshalb die Hoffnung hat, dass der Mensch auch ihr dienen wird".

Im Februar 2000 dominiert in Tschechien Ernüchterung. Nach einer gerade veröffentlichten Umfrage sind nur noch 29 Prozent der Bevölkerung der Meinung, die Lage sei vor der Wende 1989/90 schlechter als heute gewesen. 36 Prozent erkennen keinen großen Unterschied, 23 Prozent sehen sich jetzt in einer ungünstigeren Situation. Nur ein Zwanzigstel empfindet die Wirtschaftslage als gut.

Lange Zeit galt die tschechische Ökonomie als Primus unter den osteuropäischen Transformationsstaaten und das Land als Hort politischer Stabilität. Zwar hatte auch Tschechien - Anfang der Neunziger noch Teil der Tschechoslowakei - erst einmal einen Einbruch hinnehmen müssen, besonders mit der Übernahme eines radikalreformerischen Ansatzes nach polnischem Muster. Aber Inflation und Arbeitslosenrate blieben im Gegensatz zu den Nachbarländern relativ niedrig. Auch die Auswirkungen der Trennung von der Slowakei 1992/1993 hielten sich in Grenzen. In den Jahren bis 1996 folgte sogar ein kleiner Boom, mit dem auch die Reallöhne deutlich zulegten. Allerdings schufen wachsende Zahlungsbilanzdefizite und Liquiditätsprobleme von Unternehmen und Banken ernsthafte Schwierigkeiten. Währungskrise und Sparprogramm führten 1997 zu einem Nullwachstum, 1998 ging das Sozialprodukt gar um rund zwei Prozent zurück. Gleichzeitig tangierte 1999 die Erwerbslosigkeit erstmals die Zehn-Prozent-Marke (s. Übersicht).

Auch der 1998 ins Amt gekommenen sozialdemokratischen Minderheitsregierung unter Milos Zeman gelang es nicht, die Versprechungen ("Kampf der Korruption und der Krise") einzulösen. Ihr Konzept blieb eher nebulös, denn der Premier setzte einerseits auf das klassische Repertoire der Nachfragestärkung (etwa Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor), erhoffte sich aber andererseits Impulse durch staatliche Entschuldungshilfen für angeschlagene Unternehmen und eine forcierte Privatisierung.

Warum war das Land überhaupt in die Krise geraten, nachdem es doch über relativ komfortable Ausgangsbedingungen verfügen konnte? Vielleicht gerade deswegen. Vielleicht hatten sich die selbstbewussten Tschechen, die vor dem II. Weltkrieg ein ähnliches Entwicklungsniveau wie Österreich aufwiesen, die Transformation doch zu einfach vorgestellt. Sie leisteten sich eine dogmatische monetaristische Finanz- und Währungspolitik, vernachlässigten aber den Restrukturierungsbedarf in der Wirtschaft. Dieser Kurs wurde durch eine historisch geformte Einstellung entscheidend verstärkt: In Tschechien gibt es oft das Bestreben, den Konsens zu suchen, Interessen auszuhandeln und nicht einen unverblümten Konkurrenzkampf wie im benachbarten Polen zu suchen. Trotz vorhandener Polarisierung kann dies zu unproduktiven Kompromisslösungen führen, bei denen sich - gestützt auf einen dominanten Parteienstaat - die Wirtschaftseliten zu arrangieren verstehen. In der Ökonomie ermöglichten und ermöglichen so diskrete Beziehungsnetze ausgedehnte informelle - zuweilen illegale - Geschäfte. Eine besondere Rolle kam dabei den in Tschechien breit gestreuten Privatisierungen zu (s. Zeittafel), bei denen die Bürger günstig Aktien erwerben konnten. Die Methode schien auf den ersten Blick einen gewissen sozialen Ausgleich zu garantieren, doch die überforderten Couponbesitzer überließen zu rund drei Vierteln ihre Aktien "Investmentfonds", die eigenen Interessen dienten. Durch die Bindung dieser Fonds an die zumeist noch vom Staat beherrschten Großbanken entstanden diffuse und ineffiziente Strukturen. Verschuldete Unternehmen wurden oft übermäßig geschont. Es fehlte zudem an grundlegenden Regulierungen. So gab es beispielsweise lange Zeit nicht einmal griffige Bankrottregelungen oder ein effektives Börsengesetz. Und die drittelparitätische Kommission aus Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften verkam immer mehr zu einer Plauderrunde. Statt dessen wurden im Wirtschaftsleben illegale Pratiken zur Gewohnheit. In einer Umfrage gab 1999 immerhin ein Viertel der Unternehmen zu, Bestechungsgelder und andere unlautere Mittel einzusetzen.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass der sanfte tschechische Stil auch dazu geführt hat, dass die sozialen Kosten des Transformationsregimes bisher eher gering ausfielen. In keinem osteuropäischen Land haben sich die Reallöhne so schnell erholt wie in Tschechien; sie sind auch während der zwei Krisenjahre 1998/99 nur wenig gesunken. Nirgendwo in Osteuropa (außer in Slowenien) sind das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung, der Lebensstandard so hoch und die Armutsrate so gering wie in Tschechien. Das Land hat einen, wenn auch selektiven Modernisierungsschub erfahren, vor allem in den urbanen Zentren. Computerdichte und Zahl der Internetanschlüsse liegen hier weitaus höher als in den Nachbarländern.

In der insgesamt unsicheren Situation klammern sich heute wieder mehr Tschechen an die Hoffnung Europa. Schon bei den ersten Wahlen 1990 hatte das damalige Bürgerforum (OF) mit dem Slogan "Zurück nach Europa!" erfolgreich um Stimmen geworben. Während der Regierungszeit des EU-Skeptikers Vaclav Klaus ging die Euphorie etwas zurück (in Umfragen befürworteten seinerzeit nur knapp 45 Prozent einen EU-Beitritt), mittlerweile plädiert eine deutliche Mehrheit von 57 Prozent für eine Mitgliedschaft. Allerdings wächst nun die Skepsis auf der anderen Seite. So hat die Brüsseler EU-Zentrale in einem Bericht über die Beitrittskandidaten für Tschechien ausgesprochen schlechte Noten vergeben und das Land erstmals auf den letzten Platz in der Liste aller Aspiranten gesetzt. Bemängelt wurden etwa ungenügende Fortschritte bei der Anpassung an die Gemeinschaftsregeln, bei der Reform des Gesundheitswesens und des Pensionssystems, der Korruptionsabwehr sowie beim Schutz der Roma gegen Diskriminierung. Das Fazit der EU: Wegen der strukturellen "Altlasten" seien die "fundamentalen Stärken" Tschechiens (qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial, industrieller Standard, entwickelte Beziehungen zu Europa) Ende der neunziger Jahre erheblich in Frage gestellt - bestenfalls sei mit einer "Stabilisierungsrezession" zu rechnen.

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