Land der begrenzten Möglichkeiten

Ethnische Schranke Migrantenkinder werden von unserem Bildungssystem frühzeitig aussortiert. Mehr denn je entscheidet die soziale Herkunft der Eltern über den Erfolg von Schülern

"So ab der fünften Klasse, da war waren wir wirklich nur unter Türken, es war kein deutscher Schüler mehr da", erzählt Gökhan, ein 23-jähriger Industriemechaniker türkischer Herkunft. Es ist nicht schwer zu erraten, dass Gökhan damals die fünfte Klasse einer Hauptschule besuchte. Wenn man solche Schilderungen liest, wirken die Integrationsappelle unserer Politiker und Politikerinnen, gerade angesichts der Unruhen in Frankreich, besonders lächerlich. Denn es ist unser Schulsystem, das für die Trennung von ethnisch unterschiedlichen Schülergruppen verantwortlich ist. Dabei ist nicht nur die Segregation, also das Abschneiden der Sozialkontakte, problematisch. Da unser Schulsystem vielen Migrantenkindern gleiche Chancen verwehrt, begünstigt es die Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer Grenzen. Dieses System ist, wie durch die neueren Ergebnisse der zweiten Pisa-Studie noch mal bekräftigt, im internationalen Vergleich ungewöhnlich selektiv. Die große Schere zwischen den oberen und unteren Kompetenzstufen ist sehr eng mit sozialer Herkunft gekoppelt. In keinem anderen hochindustrialisierten Land ist der Bildungserfolg der Kinder so eng an den sozialen und finanziellen Hintergrund des Elternhauses gekoppelt. Nach der jetzigen Auswertung nimmt die Chancenungleichheit weiter zu. Besonders schlecht schneiden im Durchschnitt junge Migranten ab, deren Familiensprache nicht Deutsch ist. Sie werden von den Bildungsforschern zur "Risikogruppe" gezählt. Der Anteil der Jugendlichen, die in Deutschland der "Risikogruppe" zugerechnet werden, weil sie nicht die einfachsten mathematischen Operationen beherrschen, liegt über dem OECD-Durchschnitt. In dieser Hinsicht hat der eingangs zitierte Facharbeiter noch vergleichsweise viel erreicht. 40 Prozent der Schulabgänger mit Migrationshintergrund finden keinen Zugang zu einer beruflichen Ausbildung.

Wesentlich verantwortlich für die Chancenungleichheit ist unser mehrgliedriges Sekundarschulsystem. Dafür liefern die internationalen Vergleichsuntersuchungen viele Anhaltspunkte. Denn in kaum einem anderen Land gibt es eine solch starre äußere Differenzierung und eine Schulform - gemeint ist die Hauptschule -, die den Rest derer versammelt, die bei dem Run auf höhere Abschlüsse auf der Strecke geblieben sind, wenn sie nicht schon auf die Sonderschule für Lernbehinderte abgeschoben wurden. Aufschlussreich ist der Vergleich zwischen den Pisa-Studien, bei denen 15-Jährige getestet wurden, und der Internationalen Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU); denn bei den Viertklässlern, deren Lage untersucht wurde, war die Schere zwischen oberen und unteren Leistungsniveaus weit weniger groß. Und die Kopplung mit den Soziallagen war weniger ausgeprägt als bei den durch Pisa erfassten Jugendlichen - ein Hinweis darauf, dass die Erklärung für die große Spreizung im Leistungsspektrum in der Sekundarstufe zu suchen ist.

Unsere Bildungspolitiker aber stellen sich mehrheitlich taub. In den siebziger Jahren wurde die Chance vertan, ein leistungsfähiges und integratives Schulsystem zu schaffen, wie es nicht zuletzt für die Einwanderungsgesellschaft wichtig wäre. Auch beim Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten wurde die Gelegenheit nicht wahrgenommen. Das Schulsystem der DDR hatte eher internationalen Standards entsprochen. Im bundesdeutschen gegliederten Sekundarschulsystem mindert die frühe Trennung der Bildungswege die Chancen für Schüler mit ungünstigen Eingangsvoraussetzungen - und dazu zählen viele Migrantenkinder -, den Rückstand gegenüber den Gleichaltrigen aufzuholen. Es bleibt einfach viel weniger Zeit zur Förderung als in anderen Schulsystemen, in denen die Kinder sechs oder gar neun Jahre gemeinsam unterrichtet werden. Dabei könnten Migrantenkinder mit einer anderen Erstsprache und entsprechender Förderung sogar einen Vorteil haben. Erfolgsbilanzen skandinavischer Länder deuten darauf hin. Dort gibt es zudem flächendeckend Ganztagsschulen. Aufgrund des Halbtagsbetriebs, der an deutschen Grundschulen noch den Normalfall darstellt, ist das Zeitbudget beschränkt.

Die Kinder, die auf einer Haupt- oder Sonderschule landen, sind meist schon durch Erfahrungen von Misserfolg vorgezeichnet. Diese Schulformen sind ein zusätzliches Stigma, was nicht nur das Anspruchsniveau senkt, sondern auch die Leistungsbereitschaft. Dazu kommt, dass zumindest in urbanen Gebieten in Hauptschulen fast alle Schüler Sprachdefizite haben. Schon vor einem Jahrzehnt hat die Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut geschätzt, dass einem Schulabgänger mit einem normalen Hauptschulabschluss höchstens noch stark konjunkturabhängige Berufe offen stehen. Wer heute nur einen Hauptschulabschluss vorweisen kann, hat kaum noch Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Ein mittlerer Abschluss ist zur Standardvoraussetzung für eine Ausbildung geworden.

Die Trennung der Schüler nach Schulformen verfestigt soziale Zuschreibungen: Wo Hauptschulen zu "Ausländerschulen" geworden sind, wird ein Gesellschaftsbild bestätigt, in dem Migranten die unteren Positionen einnehmen. Alle gut gemeinten Bemühungen um interkulturelle Erziehung werden dadurch konterkariert. Man kann annehmen, dass nicht nur die Gewinner, sondern auch die Verlierer die Zuschreibungen und Positionszuweisungen übernehmen. Unser Schulsystem begünstigt ein rassistisches Weltbild, zumal es ja auch von einer impliziten Begabungsideologie getragen wird. Man kann von einem "heimlichen Lehrplan des Rassismus" sprechen.

Es gibt - das sei ausdrücklich betont - Hauptschulen, an denen es dank des außerordentlichen Engagements im Kollegium gelingt, die Jugendlichen zu motivieren, zu qualifizieren und vielleicht sogar in Ausbildungsstellen zu vermitteln. Das sind aber heute selbst im ländlichen Raum Ausnahmen. An vielen Schulen herrscht Resignation, und manchmal gibt es Verwahrlosungstendenzen nicht nur unter den Schülern, sondern auch im Kollegium. Die Eltern sind in der Regel nicht in der Lage zu intervenieren, weil sie Scheu haben, nicht ernst genommen werden, nicht sprachmächtig genug zu sein. - Auch diese Situation ist ein Effekt unseres gegliederten Systems. Auf der anderen Seite verfestigt die soziale und ethnische Trennung eine pädagogisch unproduktive Gymnasialkultur mit niedriger Reformbereitschaft. Dort wird erwartet, dass das Elternhaus imstande ist, die eigenen Kinder zu unterstützen, weshalb man es für unnötig hält, auf die Lernvoraussetzungen der Schüler einzugehen, von individueller Förderung gar nicht zu reden. Grundschulen empfehlen Schüler aus "bildungsfernen" Elternhäusern häufig nicht fürs Gymnasium mit der Begründung, die Eltern seien nicht in der Lage, ihren Kindern zu helfen.

Wir haben es hier mit einem typischen Beispiel für institutionelle Diskriminierung zu tun, wie sie speziell an den Übergangsschwellen in der Bildungslaufbahn vorkommt. Ganz allgemein geben offenbar die familiäre Sozialisation und das familiäre Unterstützungspotenzial bei solchen Entscheidungen den Ausschlag; was unter anderem erklärt, warum Kinder "einfacher Leute" für eine Gymnasialempfehlung, anders als Akademikerkinder, überdurchschnittliche Leistungen nachweisen müssen. Migrantenkinder und -jugendliche sind davon besonders betroffen. So verwundert kaum noch die Äußerung eines Lehrers an einem Wirtschaftsgymnasium "Was willst du als türkisches Mädchen denn hier?"

Die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems verleitet die Lehrer zur klischeehaften Einteilung nach gymnasialer Eignung etc. - und zwar zum Teil schon in den ersten Schuljahren. Die wahnhafte, vom System nahe gelegte Orientierung an leistungshomogenen Lerngruppen beeinflusst den Unterrichtsstil und schafft auch keinen Anlass zu Verbesserung diagnostischer Kompetenzen, weil die schwächeren oder schwächer erscheinenden Schüler immer "nach unten" abgegeben werden können. In den jüngsten Schulleistungsvergleichen wurde kritisch vermerkt, dass es dem Lehrpersonal an diagnostischer Kompetenz mangle. Für die Selektionszwecke reicht das Notensystem. Der Schulforscher Helmut Fend hat diesbezüglich von "Entsorgungsmentalität" gesprochen.

Die selektive Wirkung des deutschen Bildungssystems wird im Vergleich zu anderen Ländern noch dadurch verstärkt, dass die Halbtagsschule die Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Milieus am Nachmittag sich selbst überlässt, während ihre Altersgenossen von ihren Mittelschichteltern in jeder Hinsicht für eine erfolgreiche Laufbahn gecoacht werden. Der Übergang zur Ganztagsschule macht freilich beim jetzigen System nur auf der Primarstufe - oder an integrierten Gesamtschulen - Sinn. An Gymnasien wird der Ganztagsbetrieb ohnehin nur in speziellen Fällen durchsetzbar sein. Und an Hauptschulen wird man sich vielfach auf soziale Betreuung beschränken, damit die Kids von der Straße kommen. Überhaupt bestehen bei einigen der zur Zeit diskutierten Reformmaßnahmen begründete Zweifel, ob sie ohne eine entschiedene Abkehr vom gegliederten System Wirkung entfalten. Die systembedingten Handlungszwänge und die dadurch nahe gelegten pädagogischen Einstellungen sollten nicht verkannt werden. Gut gemeinte Ansätze versanden allzu leicht, wenn das Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für jedes Kind nicht im System verankert ist. Integrative Systeme nötigen dazu.

Eine neue Dynamik in Richtung Selektion wird sich entfalten, wenn, wie jetzt von der Landesregierung in NRW geplant, die Schuleinzugsbereiche aufgelöst und auch im Grundschulbereich die freie Schulwahl eingeführt wird. Man hält es kaum für möglich, aber die vom Glauben an den Segen der Marktsteuerung Besessenen wollen die Auslese und soziale Trennung noch weiter verschärfen, anstatt sie zu mildern. Dann wird ein Gökhan auch schon in der Grundschule unter seinesgleichen sein. Die Chancen, wenigstens diese "Reform" zu verhindern, stehen nicht schlecht, da auch die Kommunen dagegen sind.

Prof. Georg Auernheimer ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Köln mit Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik.


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