Beinahe hätte sich das Sommerloch doch noch bedrohlich gähnend aufgetan. Für die Medien ebenso schlimm wie für die eine Gesellschaft, die ohne den ultimativen Sensationskitzel gar nicht mehr auskommt. Aber zum Glück kam dann das Hochwasser. Es ließ in Mitteleuropa Städte und Dörfer, ganze Landstriche im Wasser versinken. Wie das sagenhafte Atlantis scheint hier eine Hochkultur abtauchen zu wollen. Feuilletonisten schrieben sich die Finger wund über die Kunst im Wasser als Performance der Naturgewalt oder als gelte es schon den Abgesang zu formulieren. Zwischen die Bilder der Zerstörung mischten sich apokalyptische Begriffe: Sommer-Sintflut, von der Jahrhundert-, gar von der Jahrtausendflut war die Rede und vom Krieg. Mit den Wassern vermis
n vermischte sich die Spendenflut und die tätige Hilfsbereitschaft Tausender. Plötzlich erlebt man jene, die sonst im Schutz demokratischer Grundrechte das Prinzip des "jeder gegen jeden" ausleben, als sozial und gemeinsinnig. Selbst Neonazis erkennen, Rudolf Heß ehren, heißt bei der Flut helfen, und verlegen ihren Gedenkmarsch mit Schäufelchen und Eimer von Wurzen auf die Elbdeiche. Ein Hauch von Volksgemeinschaft wird wahr. Oder anders: So viel Pioniergeist war selbst in der DDR nicht, und so undirigiert und lustvoll schon gar nicht. Überall ist Helfen, überall ist Neuanfang. Nicht so wie 1990 von oben herab, sondern jetzt ist die Bürgergesellschaft werktätig und aus dem Kampf gegen die Fluten gehen neue Helden der Arbeit hervor - von den Medien gekürt. Das Hochwasser versetzt eine Wohlstandsgesellschaft in den Ausnahmezustand und gibt die Gelegenheit zum kollektiven Ausbruch aus einem sonst so berechenbaren Alltag mit seinen programmierten Spaßfaktoren. Für den naturentrückten Menschen ist das Ausgeliefertsein an die Urgewalt der Natur ein archaisches, ein abenteuerliches Erlebnis. Allein Nächstenliebe erklärt den Ansturm in die Notstandsgebiete nicht. Und die Sprache sorgt für die nötige Sensation. Die Leichtsinnigkeit, mit der hier von Jahrhundertflut, zumal von Naturkatastrophe geredet wird, entsprechen ganz der Mentalität einer Gesellschaft, deren Konsens auf Schnelllebigkeit, Vergessen und Verdrängen beruht. Denn Jahrhundertfluten waren in den zurückliegenden Jahren zwischen Rhein und Oder in immer kürzeren Zeitabständen zu erleben. Dazwischen gab es Stürme und andere von Menschenhand allein verantwortete Katastrophen. Zweifellos übertreffen die Hochwasser zwischen Österreich, Tschechien und Sachsen alles in der jüngsten Zeit Dagewesene in unserer Region. Zeitgleich herrscht auch in Bangladesh, Indien und China "Land unter", vernichten die Wassermassen millionfach Existenzen. Die Ursachen sind immer gleich: Zerstörung der Landschaft, Abholzen von Mangroven- bei uns Auenwäldern, Industrialisierung der Flüsse, Versauerung des Bodens, Über- und Zersiedlung. Die Liste ließe sich beliebig verlängern und darauf verkürzen: Der Mensch beansprucht zu viel Lebensraum. Nach Platon, dessen Dialogen Kritias und Timaios wir den einzigen überlieferten Bericht über das sagenhafte Atlantis entnehmen, war das Unheil, das diesen Inselstaat vernichtete, eine Strafe der Götter für den moralisch-sittlichen Verfall eines ehedem hoch kultivierten tugendhaften Gemeinwesens. So sehr Platons Bericht als Gleichnis gelesen werden muss, so zeitlos aussagekräftig ist seine Botschaft. Hier nun ist es die Natur, die eindeutig und mehrstimmig abermals durch die Ereignisse Warnsignale abgibt. Just zu dem Zeitpunkt, da sich die Lenker des Globus in Johannesburg treffen, um zehn Jahre nach dem Erdgipfel in Rio de Janeiro den dort formulierten Absichten nun endlich zur Tat zu verhelfen. Wie in einem Theaterspielplan ist jetzt wieder mal Ökologie in allen Sprachvarianten von Artenschutz über Nachhaltigkeit bis Klimaschutz angesetzt. Nichts von alledem, was in den Medien dazu geboten wird, ist neu. Es zeigt aber, dass seit Meadows´ Schlüsselwerk des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums 1974 die Ökologie kein Leitthema ist, sondern nur eine Sonderveranstaltung. Und bemessen an dem, was konferiert und an Klugem geschrieben wurde und andererseits hätte geschehen müssen, ist nichts passiert. Ernüchternd bewahrheitet sich der Satz Immanuel Kants: "Büchergelehrsamkeit vermehrt zwar die Kenntnisse, aber erweitert nicht den Begriff und die Einsicht, wo nicht Vernunft dazukommt." Das Vernünftige wäre, von der Natur zu lernen oder wie es der Leiter des Insituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Universität Essen, Heinz Platt, formuliert: "Der Mensch muss sich den Gegebenheiten der Natur wieder besser anpassen." Aber was heißt hier anpassen? Dafür müsste sich der Mensch erstmal wieder als Teil der Natur, als Geschöpf unter Geschöpfen begreifen und nicht mehr als der ganz andere. So sehr die Erkenntnisse der Wissenschaft dazu beitragen würden, dass der Mensch wie noch im Mittelalter seinen Organismus als Allegorie der Natur begreifen könnte, und spätestens, wenn er isst und trinkt, begreifen müsste, dass er ohne die Natur nicht leben kann, so wenig hat er unmittelbar mit ihr noch zu tun. Er hat sich mit der Zivilisation eine perfekte Ersatzwelt in der Welt nach seinem eigenen Maß und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten geschaffen und sich völlig von den Lebensbedingungen seiner übrigen Erdbewohner abgekapselt. Selbst den Tod als letzte Erfahrung seiner eigenen Vergänglichkeit hat er bereits ausgeschaltet - durch öffentliche Verdrängung. Landschaft wiederum ist selbst dort, wo sie wie zwischen Elbe und Oder noch nicht durch Straßen und Siedlungen bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt ist, sondern noch üppig blüht und Weite erfahren lässt, nicht mehr als ein romantischer Garten, in den der Mensch zur Seelenbalance eintauchen kann. Die Begegnung mit der Natur wird nicht existenziell. Der Rückzug ist jederzeit möglich. Auf der anderen Seite ist die Natur für ihn das ausbeutbare Reservoir, der große Sandkasten, in dem sich der Mensch mit seiner Schaffenskraft austoben oder nach Bedarf an ihren Schätzen schadlos hält. Nicht erst seit der Gen-Technologie spielt der Mensch, wie es heißt, Gott. Er tut es schon längst. Zumeist aber gibt er den Narr. Denn es gibt außer ihm kein Wesen auf der Welt, das zum Zweck seines Überlebens gleichzeitig seine Existenzgrundlagen vernichtet. So was tut nur ein Lebensmüder. Und das will man wiederum nicht partout unterstellen. Bleibt also, die Ursache in der Entfremdung zu sehen. Aus seinem Ursprung herausgerissen, und damit der Erkenntnis, heißt der Erfahrung, wer er wirklich ist, streunt er sinnsuchend und verzweifelt sich selbst sinngebend in der Welt herum. Vielleicht beruht darin die eigentliche Tragödie, die in der Bibel mit der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies beschrieben wird. Wohl nicht anders ist zu begreifen, warum aus angehäuftem Wissen nicht bessere tätige Einsicht wird, ja der Mensch zuweilen unfähig ist, aus Schaden klug zu werden. Nach der Oderflut wurden Orte genau in den Überschwemmungsgebieten wieder aufgebaut. Und die Mahnung der Umweltverbände, die alten Fehler nicht wieder zu begehen, droht auch diesmal wieder im Eifer des Aufbaus Ost zu verhallen. Veränderung erfolgt erfahrungsgemäß ohnehin nur so viel, als es nicht weh tut. Die Ökologie wurde zum Umweltschutz umgedeutet. Heißt: Schadstoffaustoß mindern, Müll recyclen, Solarzellen auf Eigenheime - das alles dient als Alibi, die automobile Verkehrspolitik, den gewohnten Wegwerfkonsum, die Zersiedlung des Landes ungehindert weiter zu betreiben: Weiter so Deutschland. Im Namen des Schadstoffaustoßes werden dann auch Flüsse gestaut, eingedeicht und zu grün garnierten Schifffahrtsstraßen ausgebaut. Die Lebensräume und Artenvielfalt, kurzum der Schutz der übrigen Kreatur kommt darin als Eigenwert nicht vor, so lange nicht schmerzhaft klar wird, dass sich daraus ein direkter bezahlbarer Nutzen ableiten ließe. Der Weg zur Einsicht erfolgt wohl nur als Pawlowscher Reflex. Wenn die Keller zum fünften Mal vollgelaufen und die Häuser und Kunstschätze verwüstet sind, wird sich (vielleicht) etwas ändern. Geradezu atemberaubend ist dagegen die Schnelligkeit, mit der Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig nun die Pläne zum Elbeausbau "auf den Prüfstand stellt". So wenig dies auch heißen will. Denn die Beharrung und die Blockade gegen Veränderung ist in einem perfektionierten Staatsapparat wie dem unsrigen in der Bürokratie institutionalisiert. Beispielsweise in den völlig überflüssigen Schifffahrts- und Straßenbauämtern, die ihre Existenzberechtigung durch immer neue Projekte rechtfertigen müssen. Betoniert wird aus purem Selbsterhaltungstrieb. Und nichts ist schlimmer als die "Herrschaft durch die Anonymität der Büros" hat Hannah Arendt in ihren Fragmenten mahnend hinterlassen. Sie sei fruchtbarer als jede politische Despotie, weil diese Herrschaft die "Abschaffung des Politischen" bedeute, weil "niemand sie ausübt; weil mit diesem Niemand niemand reden und vor ihm vorstellig werden kann". Kurzum: Widerstand zwecklos und wenn, dann läuft er ins Leere. Das ist umso schlimmer, als die von Menschenhand verursachte Hochwasserkatastrophe eine Chance ist, den Aufbau Ost, ökonomisch ökologisch zu gestalten. Doch ohne die Bürokratie ist da nichts zu machen. Während Bundeskanzler Gerhard Schröder den Einsatzeifer der Bevölkerung als "Zeichen für den Zusammenhalt in unserem Land" würdigt, beginnt in der Hierarchie der Demokratieverwaltung der Schacher um die Milliarden der Soforthilfe. Es bedürfte eines Gesellschaftsvertrags, der die Länder bis hinunter zu den Gemeinden verpflichtet, das Geld auch tatsächlich den Flutgeschädigten zukommen zu lassen. Nicht einmal eine solche Selbstverpflichtung gibt es bis dato.
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