Ein Fremder, der heute mit offenen Augen durch das Land reist, das noch vor gut zehn Jahren "Jugoslawien" hieß, wird erschütternde, merkwürdige, aber auch schöne Erfahrungen machen. Er wird durch entvölkerte Landstriche kommen, in denen alles Bewohnbare in Trümmern liegt, durch Zonen, in denen ausländische Soldaten ihre Manöver abhalten und die Menschen daran hindern, sich gegenseitig umzubringen, durch quirlige Städte, wo neben einigen wenigen Luxuslimousinen alte Schrottwagen das Bild prägen. Er wird ländliche Gebiete sehen, in denen die Menschen ausschließlich von dem leben, was ihre Erde hergibt. Industrieruinen werden ihm ins Auge stechen, die einst Zehntausende Familien ernährten und heute nur noch auf ihren endgül
2;ltigen Zerfall warten. Flüchtlingslager könnte er besuchen, wo Hunderttausende, ungeliebt und ohne jede Perspektive, dahinvegetieren, die allerdings in diesem Fall kein westliches Kameraauge je erfasste. Und überall wird er erschütternde Geschichten hören, vom Krieg, von Vertreibung, von Hass, von Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Angesichts des nicht vorstellbaren Leides, von dem fast alle seine Gesprächspartner erzählen, wird er nicht begreifen können, was die Menschen auch heute noch freundlich sein und lachen lässt. Und er wird nicht verstehen, wie sie überleben, haben sie doch im Durchschnitt nur noch ein Fünftel dessen zum Leben, was ihnen in den achtziger Jahren zur Verfügung stand. Offenbar ist es noch immer zuviel zum Sterben. Misstrauen wird dem Fremden begegnen, sobald die Rede auf "Andere" kommt, denn "die" seien an allem schuld. "Ich hasse alle Serben", bekennt mir gegenüber ein Kroate aus tiefster Seele. - "Nie mehr werde ich einem Kroaten meine Hand reichen", bekomme ich von serbischer Seite zu hören. Wenn er, der Fremde, ein wenig nachfragt, kann er auch andere Sätze hören: "Meine beste Freundin war eine Serbin. Bis 1991 habe ich gar nicht gewusst, dass sie Serbin ist, das war doch vollständig egal", meint wehmütig eine Kroatin. "Ein Muslim hat meiner Frau das Leben gerettet", weiß mir ein bosnischer Serbe zu berichten. Und ein muslimischer Kaffeehausbesitzer in Travnik erwähnt ganz nebenbei, dass hier "jeder willkommen ist, wir sind doch ein Volk." Und in Belgrad fragt mich händeringend ein junger Mann: "Tell me, what am I?" Seine Mutter sei Kroatin, die Gattin Muslimin, der Vater aus Montenegro, Romablut fließe in seinen Adern und slowenisches auch. "Fuck the hell", gibt er gleich selbst die Antwort, "I am a Jugoslav" - doch sein Land existiere nicht mehr. Es ist alles vorbei! Ist alles vorbei - gotovo - wie man hier sagt? Immer wieder bei Reisen ins Land der Kriege kam ich zu der Überzeugung, dass es nur einen Ausweg geben kann: Das was schön und vernünftig am alten Jugoslawien war, muss so schnell wie möglich wiederkommen. Die vielen neuen Staaten mit ihren zwei, vier und acht Millionen Menschen, können so nicht existieren, zumal, wenn sie sich mit Argusaugen beobachten und oft gegenseitig blockieren. Das weiß jeder im Land, der auch nur fünf Minuten nachdenkt. Die meisten fliehen daher in Träume, sprechen von Europa und von der großen Hilfe, die bald kommen werde. Doch da insgeheim alle wissen, dass diese Hilfe nicht kommen wird, denkt fast ein jeder über seine Chancen nach, selbst nach Europa zu ziehen; oder nach Amerika oder Australien, wie es so viele schon getan haben, die in ihrer alten Heimat - der viel geschmähten - eine hochgradige Qualifikation erworben hatten. "Wie soll ich es meinen Kindern erklären, dass ich in Jugoslawien ein gefragter Arzt war", will ein Taxifahrer in Frankfurt von mir wissen. Und ein muslimischer Soziologe und Buchautor schreibt mir aus Neuseeland, er ernähre seine Familie nun mit Fliesenlegen in fremden Häusern. Und jeder, der geht, reißt eine neue Lücke, verringert die Chancen jener, die es nicht schaffen, das Land zu verlassen. "Das weiß ich ja", entgegnet mir in Belgrad zornig eine Chemikerin, "doch sobald ich ein Visum bekomme, bin ich weg. Ich will, dass meine Kinder wenigstens so gut leben wie ich früher." Was hindert die Menschen zu tun, was die einzige Lösung scheint? Vor allem ist es wohl die Lähmung, die nationalistischer Wahn über das Land gebracht hat. Die vielen Verbrechen, die das herauf beschwor, haben die Sicht verdunkelt. Und doch weiß jeder oder fast jeder, dass es überall Verbrecher und überall unschuldige Opfer gibt, und dass Verbrechen von Verbrechern und nicht von Völkern begangen werden. Das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurück, aber vielleicht doch in eine bessere Richtung drehen. Die Menschen, die mir in den vielen neuen Staaten begegnen, frage ich oft: Wann werdet ihr damit beginnen, Zukunft vor die Vergangenheit zu stellen? Wie lange wollt ihr euch noch einreden, dass nur die Anderen Fehler gemacht haben - zumindest die größeren? Wann werdet ihr von den Mächtigen fordern, mit den nationalistischen Sprüchen endlich aufzuhören, die für nichts anderes gut sind als ihre Macht? Wie lange wollt ihr euch noch durch nationale Symbole, von denen kein Mensch satt wird, Größe vorgaukeln lassen? Wann wird euch bewusst werden, dass euch niemand in der Welt respektieren wird, solange ihr noch an den Gräben grabt, anstatt sie zuzuschütten? Wann werdet ihr euch daran erinnern, dass so manches besser war im gemeinsamen Staat und dass vieles auch heute gemeinsam besser laufen könnte? Und immer wieder bekomme ich zu hören, dass das wohl alles richtig sei, doch es ginge eben nicht - zu vieles sei geschehen, in 50 oder 100 Jahren gehe es vielleicht. Und wenn ich vorschlage, schon heute damit zu beginnen, heißt es oft, dass das die Anderen ohnehin nicht wollten. Sind es Hunderte, die so denken, oder Zehntausende? Ich vermute, es sind Millionen. Doch selbst wenn es in jedem der neuen Staaten nur einige wenige sein sollten, die es anders sehen, dann sollten die mit gutem Beispiel vorangehen. 50 oder 100 Jahre sind eine sehr lange Zeit. Vom Autor ist u.a. das Buch - Reisen in das Land der Kriege - Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien (Vorwort von Peter Glotz), Espresso, Berlin, DM 38,90 erschienen.
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