Landgewinnung

Nachhaltigkeit Erstmals analysiert eine Studie, wie „grünes Wachstum“ in einem Bundesland aussehen könnte: Autarkie ist nicht möglich - regionale Wertschöpfung schon

Es ist leicht, sich darüber lustig zu machen, wenn jemand versucht, Wohlstand anders zu bemessen als bislang üblich. Kaum erschienen die ersten Berichte über die Studie zum grünen Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der Presse, sprach die FDP spöttisch vom „Wohlfühlindex“ – statt „Wohlstandsindex“.

Aber die Berechnungen, die eine Forschergruppe aus der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) für Schleswig-Holstein anstellte, haben nichts mit Wünsch-Dir-was oder Schönrechnen zu tun. Es ist bekannt, dass das BIP, das als zentraler Wirtschaftsindikator allabendlich im Fernsehen zitiert wird, eigentlich ungeeignet ist, den Zustand einer Volkswirtschaft zu beschreiben. Es ist unsensibel gegenüber ungewollten, einer Volkswirtschaft abträglichen Prozessen.

Führt beispielsweise eine Ölpest dazu, dass Reinigungs- oder Räumungsunternehmen viele Aufträge bekommen, hat die Ölpest nach dem BIP positive Wachstumseffekte. Entsprechendes gilt für eine unfallträchtige Straße, die massenweise Verkehrsopfer fordert. Ambulanzen, Krankenhäuser, Begräbnis­unter­neh­men – sie alle profitieren ökonomisch. Umgekehrt ist das BIP nicht in der Lage, den Kapitalwert von ökologischen Zuständen, Bildung, Ehrenamt zu beschreiben, geschweige denn deren Wirkung auf die Wertschöpfungs­kette auch nur ansatzweise zu erfassen. Das alles ist höchst unbefriedigend und seit Jahrzehnten bekannt.

Dass man die negativen Folgen von Wachstum mitrechnen muss, sollte seit dem IPCC-Report und den Berechnungen von Nicholas Stern zum Weltklima allen klar sein. Auf 700 Seiten diskutierte Stern in seinem Report die Folgen der globalen Erwärmung und kam zu dem Ergebnis, dass der Klimawandel zu einem Wirtschaftsverlust zwischen 5 und 20 Prozent des weltweiten Sozialprodukts führen würde. Genau diesem Ansatz, schädliche Folgen von Wachstum ökonomisch zu berechnen, folgt auch die von den schleswig-holsteinischen Grünen in Auftrag gegebene Studie. Nur dass sie sich traut, für Schleswig-Holstein weitaus mehr Faktoren zu analysieren. Über den Versuch, nicht erwerbstätige Arbeit mit Zahlen zu erfassen, mag man berechtigt streiten. Aber zu leugnen, dass eine intakte Volkswirtschaft auf diese angewiesen ist, liegt verdammt dicht an dem Westerwelle-Weltbild von der spätrömischen Dekadenz. Und auch soziale Ungleichheit ist ein messbarer Faktor, und zwar kein guter.

Die Studien der OECD weisen nach, dass das Einkommensgefälle in Deutschland in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen ist als in der Mehrheit der OECD-Länder. Gerade weil wir nachhaltiges Wachstum wollen, müssen wir die Debatte über das Maß, mit dem wir es messen, eröffnen. Die Studie Ein grünes BIP für Schleswig-Holstein unternimmt erstmals den Versuch, die Theoriedebatte konkret und realistisch auf ein Land zu übertragen. Sie kommt dabei zu erstaunlichen ­Ergebnissen: „Während das BIP in Schles­wig-Holstein im Jahr 2008 nur knapp 0,2 Prozent über dem BIP von 1999 liegt, ist der NWI (Nationaler Wohlfahrtsindex) in diesem Zeitraum in diesem Bundesland um 9,4 Prozent gestiegen. Dagegen ist in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt das BIP zwischen 1999 und 2007 um 7,4 Prozent gestiegen, der NWI jedoch um 3,2 Prozent gefallen; würde man den Rückgang des Bundes-NWI auf das Jahr 2001 beziehen, dann würde der Rückgang sogar 7,4 Prozent betragen, da der Bundes-NWI zwischen 1999 und 2001 noch einmal angestiegen war.“

Überdurchschnittlich zufrieden

Die Studie analysiert die Gründe für diese erstaunliche Entwicklung und gibt dann Handlungsempfehlungen. Die Arbeitslosenquote bewegt sich im Bundesdurchschnitt, die Lebenszufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger ist überdurchschnittlich. Das Land verfügt über ein reiches Naturkapital und über ein gutes Potenzial mittelständischer Betriebe: „Grüne“ (Wirtschafts-)Politik sollte sich folglich – insbesondere unter der Restriktion begrenzter Finanzmittel – zwischen zwei sehr unterschiedlichen Polen bewegen:

(A) Förderung der (technologischen) Stärken im Umweltbereich, damit Förderung des Versuchs, auf den globalen Märkten der Umwelttechnik in bestimmten Feldern eine Spitzenposition zu halten, zumindest aber wettbewerbsfähig zu bleiben. Mit anderen Worten: Felder des ökologisch orientierten „selektiven Wachstums“ zu identifizieren und zu fördern.

(B) Förderung der lokalen und regionalen Ökonomien als Präventionsstrategie, um gegen kommende Finanz- und Wirtschaftskrisen gewappnet zu sein. Wir brauchen die bewusste Förderung einer lokalen Infrastruktur, durch die mögliche Suffizienzstrategien im Land besser entwickelt werden können.

Dies schließe auch Aktivitäten im Bereich der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ mit ein“, heißt es zum Ende des Gutachtens. Diese Empfehlung betrifft gleich mehrere politische Probleme im Land. So streiken die Krabbenfischer der Nordsee zum Beispiel, weil sie das Kilo Krabben für 1,20 Euro abgeben müssen. „Abgeben müssen“ ist tatsächlich wörtlich zu nehmen, denn es gibt nur zwei große, niederländische, marktbeherrschende Unternehmen, die den Preis diktieren. Hätte man eine lokale Vertriebsstruktur, gäbe es diese Abhängigkeit nicht. Entsprechend geht es den Milchbauern.

Nicht überzogen interpretieren

Der Aufschwung der erneuerbaren Energien – vor allen Dingen durch Bürger-Wind- und Bürger-Solarparks – zeigt dagegen, wie lokale Genossenschaftsstrukturen die Wertschöpfung nicht an Großkonzerne abfließen lassen und damit auch die Bestimmung über den Ausbau der Energiestruktur im Land lassen. Strukturschwache Regionen wie die Westküste sind heute zur Boomregion der erneuerbaren Energien geworden. Nicht umsonst nennt man Nordfriesland heute das Silicon Valley des Nordens. Und jetzt geht es an den Netzausbau, der im Land und in der Republik in gewaltigem Umfang ansteht. Hier könnte man ebenfalls ein Modell entwickeln, das die Bürgerbeteiligung an der Finanzierung und damit auch am Gewinn zulässt, ja mehr noch: zulassen will. Andererseits sollte unserer Meinung nach dieser Vorschlag nicht überzogen interpretiert werden – etwa in dem Sinn, dass sich ein Land möglichst vom Weltmarkt oder bereits vom überregionalen Wirtschaftsgeschehen abkoppelt.

Wie die Verwundbarkeit der einheimischen Wirtschaft durch externe Schocks (Finanzkrisen etc.) gesenkt werden kann, ist eine politische Herausforderung. Daraus folgt aber nicht eine Politik der Deglobalisierung, jedenfalls nicht zwingend, sondern daraus folgen Ordnungsstrukturen und Regelwerke, die, wie man vielleicht norddeutsch sagen kann, eine zweite Deichlinie einziehen. Regionale Ernährungskreisläufe, die Verwendung einheimischer Baumaterialien und Biorohstoffe sind besser als die Abhängigkeit von Rohöl und Sojaexporten. Aber eine Autarkie, die der Begriff „Suffizienz“ andeutet, ist nicht nur unmöglich, sondern auch im nachhaltigen Sinn falsch, weil sie zu Fehlentwicklungen führt. Der Überproduktion von Energie, beispielsweise an den Küsten, steht dann die weitere Abhängigkeit von Kohle- oder Atomstrom in den Ballungsgebieten gegenüber. Und eine hundertprozentig erneuerbare Stromversorgung wird nur durch internationale Vernetzung mittels Gleichstromleitungen (HGÜ) möglich sein.

Irgendwann radikalere Schritte

Die weiteren Handlungsempfehlungen zielen auf die Förderung von mittelständischen Unternehmen als die eigentlichen Innovationsträger im Land, der Verbindung von Natur­erlebnis, Tourismus und Life Sciences und der Schaffung eines neuen Clusters „Bioökonomie“. Bioökonomie umfasst nicht nur die ökologische Landwirtschaft, sondern ökologische Produktionsreihen insgesamt sowie die Umwelttechnologien, die weiter gefördert und an den Hochschulen angesiedelt werden müssen.

Die Studie ist aktuell vor dem Hintergrund einer Theoriedebatte erschienen, die von den Grenzen des Wachstums handelt, von der Frage, ob green growth, steady state economy oder gar eine planmäßige degrowth-Strategie notwendig sind. Über diese Fragen wird erbittert gestritten. Es mag sein, dass wir irgendwann gezwungen sind, radikalere Schritte zu gehen. Aber die Studie zeigt, dass eine ökologische und soziale Umgestaltung der Wirtschaft sehr wohl eine Wachstumsstrategie bedeuten kann – um im Bild zu bleiben: eine weitere Landgewinnung. Und gleichzeitig ist es möglich, ein realistischeres, umfassenderes Bild der Wohlfahrtsentwicklung in einem Bundesland zu erlangen, indem Faktoren in die Betrachtung einbezogen werden, die im BIP unter den Tisch fallen. Das liefert bessere Entscheidungsgrundlagen für die Politik, wenn es um Investitionen und Prioritäten geht, mit denen über die Lebensqualität im Land entschieden wird.

Robert Habeck ist Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag. Andreas Tietze ist wirtschaftspolitischer Sprecher der Landtagsfraktion

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