Urs Jaeggi ist ein Felsen: innen weißes Jura, basisch-reaktiv, außen Schieferton schwarz (Jacke wie Hose). Wolkenbügelhaft überragend auch körperlich die Traufhöhe preußischer Literaturlandschaft, ist Urs Jaeggi nach 30 Jahren Berliner Exil ein relativ Unbekannter geblieben. Für Kenner jedoch nie ein Vergessener, sondern einer, den man zu lange schätzt, um ihn fortgesetzt zu loben.
Ich tue es, weil ich erst spät den Autor Jaeggi entdeckte, als die Mauer den Blick auf Naheliegendes freigab. Im Ostteil der Stadt wurde der Soziologieprofessor an der FU wegen seines Für und Wider die revolutionäre Ungeduld aufgrund der vom sozialdemokratischen Vater ererbten politischen Rechtschaffenheit links liegengelassen. Als gepriesener Erzä
iesener Erzähler und Lyriker fehlte der Freund und Landsmann Max Frischs in DDR-Editionen unentschuldigt. Mittlerweile ein gern gesehener Gast am Prenzlauer Berg, feierte die Literaturwerkstatt Berlin seinen 65. Geburtstag vor zwei Jahren mit einem fulminanten Konzert für Alphörner und Männerstimmen (Text: Urs Jaeggi). Danach galt er im Buchhandel vier Jahre als vermisst. Zur Jahrtausendwende fand man einen streng gesetzten Bild-Text unter dem Titel Lange Jahre Stille als Geräusch. Ein atemloses Prosastück, ursprünglich als Filmstoff konzipiert, wurde von seinen Verlegern verworfen. Der Autor sei derzeit zu alt und thematisch off shore für den auf leicht verdauliches Frischfleisch setzenden deutschen Buchmarkt. So blieb dem geneigten Leser nur, in Antiquariaten die frühen Werke des Autors aufzuspüren. Mit etwas Glück und Spürsinn findet er seinen letzten Roman Soulthorn(1990); die fundamentale Roman-Trilogie zum Thema Studentenbewegung Brandeis (1978), Grundrisse (Bachmann-Preis 1981), Rimpler (1987); seine Erzählbände Wohltaten des Mondes (1964), Fazil und Johanna (1985) oder die vom Autor illustrierte Ausgabe der Komplizen (1982). Seltenheitswert haben seine soziologischen und literaturkritischen Schriften Macht und Herrschaft in der BRD (1968), Literatur und Politik (1972) sowie die Essaybände Versuch über den Verrat (1984) und Was auf den Tisch kommt, wird gegessen (1981). Letzteren trage ich stets bei mir, wenn ich die Eltern sehe und versuche, ein guter Sohn zu sein. Im ständigen Scheitern, die schwere Kost der Kindheit herunterzuwürgen, hilft mir, besser als Bullerich-Salz und Bibel, Jaeggis verzweifelte, doch nie verzweifelnde Einsicht, dass Fortschritt nicht im Gewinn sicherer Erkenntnisse besteht, sondern im behutsamen Abschmelzen von Resignation. Seine Ohnmacht vor der strengen Mutter und die Sorge um die antiautoritär erzogene Tochter spricht mir als Muttersöhnchen und Tochtervater aus der Seele. Allein für das Buch muss man ihn lieben, dieses letzte Einhorn unter den Philanthropen, diesen hundsbegabten Eintänzer aus Solothurn. Dass das Leben ein Eiertanz ist und chronische Depression der Preis für Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung, heißt für Urs Jaeggi - kein Grund zu verzweifeln. Immer steht bei ihm ein ABER nach dem SO IST ES. Nicht als billiges Hoffnungsprinzip in aussichtsloser Lage oder pro forma des vorausschauenden Künstlers, sondern öffentliche Ermutigung zum eigenen Weitermachen. Wenn nicht anders möglich als durch gewohntes Anschreiben, dann durch Fremdarbeit im erweiterten Kunstbegriff. Mit Disziplin und Ausdauer brachte es der gelernte Bankkaufmann zu einem angesehenen Bildhauer/Maler mit ansehnlicher Expositions-Liste und virtueller Galerie-Begehung im Internet. Jaeggis Bildsprache ist auch immer Sprech-Bild und will die Bruchstellen zwischen Wort und Sinn transparent machen. Wenn Jaeggi nicht schreibt, werkelt er in seinem Atelier an handfesten Dingen - Stein, Eisen, Holz, Papier. Die Häuslichkeit des Satzbaus immer wieder gegen die Gefahr des Scheiterns im leeren Raum eintauschend, sucht der Schweizer-Macher, sich als Landvermesser durch Kunst verwüsteten Terrains neu zu orientieren. Mit 70 hat, würde man meinen, einer alles gesagt, der was zu sagen hat. Nicht einer wie Urs Jaeggi, der alles Gesagte in Frage stellt und jede Antwort als mangelhaft abtut. Im Vorläufigen sucht er das Wesen seiner Kunst auszuloten, nicht im Nachtrag gesicherter Wirkungen. Wohl deshalb ließ er seine Leser lange warten auf den dritten Teil seiner autobiografischen Essays. Der lapidare Titel Kunst mag ob seines affirmativen Gemeinplatzes abschrecken. Bei Jaeggi ist er Programm im handgreiflichen Sinn und unfassbar in seiner Formalität. Kunst kommt von Können, sagt der Handwerker. »Bey den Bäckern einiger Gegenden, ist die Kunst ein Kasten mit einem Boden von Drahte, das Wasser von dem genetzten Weitzen wieder wegzuschaffen.« (Adelung, Wörterbuch). Kunst ist Bewusstsein. Also muss der tätige Künstler darüber sprechen. Hier handelt es sich jedoch nicht um mehr oder weniger theoretische Betrachtungen eines Autors, der sich der Malkunst verschrieben hat. Auch nicht, wie bei John Berger, um die Zwiesprache eines Erzählers mit Bildern über die Natur von Kunst und die Kunst der Natur. Urs Jaeggi ist Künstler, das heißt, er ernährt sich von Skrupeln, die er sich täglich zubereitet (Karl Krauss). Sinn seiner Auseinandersetzung mit Kunst ist nicht, sie zu explizieren als l´ art pour l´art, Avantgarde, Agitprop. Vielmehr zu fixieren als jemand, der ihr mit dem Rücken zur Wand wehrhaft ausgesetzt ist und begreifen will, warum Kunst für ihn gleichermaßen Sauerstoff und Stickstoff, Manna und Erbrechen, bonheur und malheur ist. Die Kunst kann nicht trösten, sie verlangt schon Getröstete. Fast beiläufig, ohne das Sich-kunstreich-gehen-lassen eines Robert Walser, dessen anmutiges Schweben in Freiheit er mühelos beherrscht, leistet Jaeggi gegen alle Schulmäßigkeit gesetzte Kunsterziehung und Erziehungskunst. Und schafft ihm durch illusionslos-aufrichtige Selbstbeschreibung eine allgemeine Ermutigung zum Altwerden, die des Witzes aber auch der Geschwätzigkeit manchen »Greisengemurmels« deutscher Kunstgelehrter entbehrt. Auf höchstem Denkniveau und mit kaum mehr zu verdichtender Sprache sprengt der Schweizer Bankgehülfe gesicherte Literaturgattungen wie Luftschlösser und beendet mit den Kunstbetrachtungen seine Trilogie des Vergessens. Vergleichbares Lesevergnügen hatte ich nur bei den Essays des schreibenden Kunstsammlers Peter Hacks und des Dichter-Philosophen Octavio Paz. Urs Jaeggi teilt mit ihm das Unbehagen an der Moderne. Kunst braucht Vorbilder, mythische Adressen und empfangsbereite Empfänger. Der Dichter braucht den Leser. Jaeggi spricht zu ihm aus egalitärer Augenhöhe und bietet ihm aus gewohnter linker Zuversicht schon mal das DU an. Ich gebe es ihm dankbar zurück mit seinen Worten: »Ändere Dich; bleib´, der du bist«.Urs Jaeggi: Kunst. Alexander, Berlin 2002, 166 S., 14,90 EUR
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.