Wenn ich ein abstraktes Bild sehe, sehe ich nichts als ein abstraktes Bild. Der Rorschachtest löst bei mir lediglich ein Wiedererkennen des Rorschachtests aus. Sehe ich eine schwebende Jungfrau, dann sehe ich eine Frau, die aufgrund einer Reihe von versteckten technischen Vorkehrungen des Magiers zu schweben scheint. Dafür, daß man die Vorkehrungen nicht sieht, wird der Illusionskünstler bezahlt, ich kann also auch hier meinen Augen trauen. Und in Hinblick auf die ewige Plausibilität der kleinen Welt, in der ich lebe, hat es den Affekt, daß ich wohl nicht richtig sehe, ohnehin nie geben können. Was alles möglich ist, weiß ich nicht. Aber wenn ich es sehe, weiß ich, daß es wirklich ist.
Das alles stimmt natürlich nicht, wie ich ein
Lange nicht gesehen
Zeitgeschichte Erzählung vom Ende der Nachkriegsordnung
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ich einsehen mußte. Nicht bloß deshalb, weil ich doch einmal mit eigenen Augen etwas gesehen habe, das ich nie für möglich gehalten hätte. Aber damit hat es begonnen. Wie jeden Abend machte ich mit meinem Hund eine Runde um den Häuserblock. Unzählige Male war ich schon bei meinen Abendspaziergängen an der Pik-Dame-Bar vorbeigegangen, ohne je auch nur auf die Idee gekommen zu sein, hineinzugehen. Warum ich an jenem Abend aber plötzlich eintrat, um ein Bier zu trinken, weiß ich nicht. Vielleicht war meine diffuse Lebenssehnsucht gerade stärker als meine Angst, die prinzipiell jede Enttäuschung einkalkuliert und sie daher vermeidet, vor allem wenn es so einfach ist, wie beim Vorbeigehen an einem dubiosen Wiener Vorstadtlokal, auch wenn Gelächter bis auf die Straße dringt. Ich muß den Eindruck eines Blinden gemacht haben, als ich mit meinem Hund in dem Lokal stand und hilflos mit weit aufgerissenen Augen durch die beschlagenen Brillengläser starrte. Was ich wie durch einen langsam sich lichtenden Nebel sah und ewige Augenblicke lang nicht glauben konnte, war eine Horde betrunkener und grölender Männer, die um einen Tisch herumstanden - auf dem die Lechner tanzte. Die Lechner Maria. Ich kannte sie als den Inbegriff des Braven und Biederen seit der Schulzeit, wir sind in derselben Klasse gesessen. Abschreiben hat sie nie lassen, aus Angst, daß dies ihr eigenes schulisches Fortkommen beeinträchtigen könnte. Noch bei der Matura hatte sie zwei Zöpfe gehabt, bestanden hatte sie natürlich mit Auszeichnung. Unmittelbar nach der Maturaprüfung ist die halbe Klasse in die Stadt gefahren, um zu feiern. Wir waren überrascht, daß die Lechner mitkommen wollte - dann war sie die einzige, die mit der Straßenbahn nicht schwarzfahren wollte, und wir mußten endlos auf sie warten, weil sie erst irgendwo Vorverkaufsfahrscheine besorgen wollte. Getrunken hat sie dann nur Soda mit Himbeer. Verrucht ist uns die Webora vorgekommen mit ihrem ewig süßen Martini. Die ist dann plötzlich mit dem Humer verschwunden, der hat überhaupt schon immer Ouzo bestellt. Später habe ich die Lechner noch ab und zu durch Zufall getroffen, aber bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr ist sie ungebrochen das zehnjährige Mädchen geblieben, das brav ihre Hausaufgaben macht. Mit vierundzwanzig hatte sie ihr Jusstudium abgeschlossen, mit fünfundzwanzig, nach dem Gerichtsjahr, die Richteranwärterprüfung bestanden und vier Jahre später die Übernahmeprüfung. Alles bei ihr ist stets glatt gegangen, konfliktlos, ohne Ablenkung, im idealen Zeitplan, dann war sie Richterin, und ich hatte sie aus den Augen verloren. Und jetzt, ungefähr fünf, nein beinahe sechs Jahre später sah ich sie also wieder, betrunken kreischend und lachend auf einem Tisch tanzend, von dem sie ununterbrochen beinahe herunterstürzte, während sie die Hände, die sich unter dem Vorwand, Halt zu geben, ihr entgegenstreckten, verächtlich abwehrte, unter dem Vorwand, sie abzuwehren. Die Musik, die den kleinen schummrigen Raum der Bar ausfüllte, kam aus einem Radio, wie ich merkte, denn als das Lied zu Ende war, kamen Nachrichten. Deutsche Demokratische Republik. Es sei begonnen worden, die Berliner Mauer abzureißen, sagte der Sprecher. Die Nachkriegsordnung löse sich auf. Nochmals war durch das Geschrei und Gelächter hindurch deutlich das Wort Nachkriegsordnung aus dem Radio zu hören. Maria stand auf dem Tisch, die Hände in die Hüften gestemmt. Plötzlich sah sie mich, sie lachte auf, entweder weil sie mich erkannte, oder weil die Männer, die ihr vom Tisch herunterhalfen, sie - nein, weil sie mich erkannt hatte, denn sie kam gleich zu mir her. Sie hatte diesen starren, glänzenden Blick, wie Glasaugen, die in einer weichen Masse stecken, die jederzeit zu zerfließen droht. Sie stolperte, beinahe wäre sie aufkreischend mir um den Hals gefallen, Servus Holzer, sagte sie, lange nicht gesehen. Mein Hund begann zu bellen, ich hatte einen Schweißausbruch, die Augengläser, die beinahe wieder klar schienen, liefen neuerlich an. Das müssen wir feiern, sagte sie, aber nicht hier. An den engen rosa Pulli der Kellnerin, die plötzlich vor mir stand, kann ich mich noch erinnern, ganz kurz der Gedanke an einen gläsernen Frauenkörper, gefüllt mit Soda mit Himbeer, die große schwarze Kellnerbrieftasche, die sich wie ein dunkler Schlund öffnete, auf dessen Grund es glitzerte, ein Arm in blau-weiß gestreiftem Hemd, der von irgend woher kam und, ich weiß nicht wie und von wem, weggeschlagen wurde, so viel Bewegung unmittelbar um mich herum, und ich war so starr. Auf der Straße hängte sich Maria bei mir ein. Erzähl! Ich mußte plötzlich lachen. Ich hatte nichts zu erzählen. Ich habe bisher ein Leben geführt, von dem nur erwähnenswert ist, daß es in eigentümlicher Konsequenz nie einer Erwähnung wert war. Als ich einmal einen gewissen Stolz zu empfinden begann, daß ich ein aufsehenerregendes Leben führe, merkte ich allzubald, daß der banale Anlaß dieses Stolzes bloß dumme und belanglose Schülerstreiche waren. Als ich noch einmal glaubte, der Meinung sein zu dürfen, daß ich ein kämpferisches und intensives Leben beginne, merkte ich, daß ich konsequenzlose studentische Scharmützel beinahe allzu wichtig genommen hätte. Als ich mein Studium abbrach, trat ich in eine Bank ein, in der ich heute noch arbeite. Mein Leben seitdem läßt sich erst recht in beschämend wenigen Worten vollkommen beschreiben: Pünktlichkeit, Freundlichkeit und jener Fleiß, der seine Objekte in derselben harmonischen Geschwindigkeit sich vermehren sieht, wie er sie wegerledigt. Ich habe nicht den Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, aber der Gedanke, daß, hätte ich den Wunsch, diese schon mit dem Kauf von Papier fertiggestellt wäre, da sie füglich nur aus leeren Seiten bestehen müßte, irritierte mich sehr. Diese Unzufriedenheit ist unverständlich, denn ich habe keine Sorgen. Aber sie ist verständlich, denn ich bin nie glücklich gewesen. Ich gerate meinem Vater nach. Er ist ein korrekter Mann, freundlich ohne Überschwang, mit einer stillen, ewig ängstlichen Frau, meiner Mutter. Ich wäre lieber meinem Großvater nachgeraten. Im Jahr 1968, ich war gerade vierzehn, hat er mir zum ersten Mal aus seinem Leben erzählt. Im Februar 1934 hat er als Sozialist am Arbeiteraufstand teilgenommen, später im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden gekämpft, dann ist er in die englische Emigration und mit der British Army als Befreier zurückgekommen. Ist auch kein Sieg gewesen, hat er gesagt. Warum? Schau dich doch um. Na, du wirst schon noch sehen, was ich meine. Und angerechnet ist uns das auch nie worden, die ganzen Jahre des Kampfes, nicht einmal für die Pension. Heute reicht´s gerade dazu, auf einem Parkbankerl zu sitzen. Soll ich vielleicht Tauben füttern? So grausliche Viecher. Als Großmutter schwer krank wurde, haben sie gemeinsam eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt. Damals war ich siebzehn und bin in der Schule fast durchgefallen. Mein Selbstgefühl habe ich in jener Zeit sicherlich aus der Verachtung bezogen, die ich für all die empfand, in deren Leben alles immer so glatt, problemlos und harmonisch ablief, daß ihnen immer die richtige Antwort, aber nie eine Frage einfiel. Ich verachtete also fast alle, natürlich auch die Lechner. Ich war überrascht, wie sehr ich das Wiedertreffen mit ihr genoß. Jetzt, mit fünfunddreißig, war sie plötzlich eine Achtzehnjährige, bei der sich das simple Hochgefühl, das man empfinden mag, wenn man schon rauchen darf, grotesk übersteigert zeigte. Aber es hatte einen Sog, von dem ich, ängstlich und verspannt, also auf unklare Weise augenblicklich erregt, mitgerissen wurde. Und als wir nach einem Lokalbummel, der meine Kräfte beinahe überstiegen hätte, mitsammen ins Bett gingen, da hatte ich das Gefühl, von Maria erst zum Mann gemacht zu werden. Ich meine dies in Hinblick auf die eigentümlichen Idealbilder, die gesellschaftlich von Männlichkeit und Weiblichkeit existieren und die in der Sexualität im Ideal einer Lust kulminieren, die ich nur aus Pornofilmen kannte, die mir aber in meinem eigenen Leben unerreichbar schien. Ich wurde von Maria in einer Weise mit Lust bedient, während ich selbst die überraschendsten Ekstasen bei Maria auszulösen imstande war, daß ich - ich kann es nicht anders sagen - plötzlich ein anderer war. Und ich sah auch die Welt jetzt mit anderen Augen. Mit Verwunderung fragte ich mich, wie es möglich war, daß sie mir so fraglos selbstverständlich werden konnte, und wie mir hatte genug sein können, was sie mir bot. Dieses Geregelte, das sich so unermüdlich in sich selbst erschöpfte, dieses glatte Funktionieren, für das man in der Regel mit keinem Genuß belohnt wurde. Natürlich habe ich Maria gegenüber sofort ein gewisses Suchtverhalten entwickelt. Wir waren zwei in die gerade Bahn geworfene Menschen, die plötzlich entdeckt hatten, daß die lustvolle Ausgelassenheit und Narretei des Faschings, den ich auch nie lustvoll erlebt hatte, jederzeit konsequenzenlos hergestellt werden könne. Wie viele Lokale es in der Stadt gab und wie viele Genüsse, die wir uns leisten konnten. Und wie viele Orte für die Liebe. Und nie mußte man sagen: Ich liebe dich. Und nie mußte man verschweigen: Ich dich nicht. Denn wir waren kein Liebespaar, sondern gewissermaßen Kollegen, die ein gemeinsames Interesse pflegten, nämlich die Herstellung von Ausnahmen. Ausnahmen, die zur Regel wurden. Wir vereinbarten Exzesse nach dem Terminkalender, konsumierten Genüsse, die auf einem Markt angeboten wurden, der genauso durchkalkuliert ist wie die Geschäfte der Bank, für die ich arbeite. Und plötzlich produzierten all diese Reize nur neue Sehnsüchte: nach einem Erholungsurlaub, nach Reformkost und Obstsäften, nach einem guten Fernsehprogramm. Wenn ich in der Früh aufwachte, war mein Gesicht aufgedunsen, und meine Augen waren verschwollen. Zwei Aspirin gegen die Kopfschmerzen wurden mir bald zur Gewohnheit, so wie früher das Frühstücksei. Vor der Arbeit noch die Zeitung zu lesen gelang mir kaum mehr, mein Blick wanderte über die Zeilen, ohne daß ich auffaßte, was ich las. Wenn ich zu Fuß durch den Stadtpark zur Arbeit ging, hatte ich Erstickungsängste im Sturm der Tauben, die wie riesige graue Flocken um die alten Frauen mit ihren Futtertüten wirbelten. Als ich Maria vergangenen Freitagabend von zu Hause abholte, wollte sie, bevor wir ausgingen, erst die Nachrichten im Fernsehen anschauen. Es ist toll, sagte sie, es passiert ja jetzt jeden Tag etwas Überraschendes. Sowjetunion, DDR, Tschechoslowakei. Schau dir das an, sagte sie. Sie wirkte müde und abgespannt. Als die innenpolitischen Nachrichten kamen, begann sie zu erzählen, was für einen unglaublichen Fall, wie sie sagte, sie heute im Gericht habe bearbeiten müssen. Eine Zumutung, sagte sie, womit sie sich herumschlagen müsse. Es ging um ein Verfahren über die Bestellung eines Sachwalters. Ich fragte sie, was das sei. Auf deutsch gesagt, ein Entmündigungsverfahren, sagte sie. Für eine Person, die an einer psychischen Krankheit leidet oder geistig behindert ist und alle oder einzelne Angelegenheiten nicht ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen imstande ist, ist auf ihren Antrag oder von Amts wegen ein Sachwalter zu bestellen. Gut, also stell dir vor: Ein neunundachtzigjähriger Mann geht immer wieder blind im ersten Bezirk herum, rempelt die Leute an, stolpert, reißt Menschen fast nieder, kurz: erregt öffentliches Ärgernis. Der Mann wurde polizeibekannt, weil es immer wieder Hinweise bei der Polizeiwachstube gab, Beschwerden, sogar Anzeigen, oder weil es auf der Straße zu Szenen kam, bei denen vorbeikommende Polizisten einschreiten mußten und so weiter. Das Problem entstand ja vor allem dadurch, daß der Mann sich nicht als Blinder kennzeichnete, etwa durch eine Blindenschleife, und auch keine Hilfsmittel verwendete, die einem Blinden ein selbständiges Bewegen auf der Straße ermöglichen, also zum Beispiel einen Blindenstock oder einen Blindenhund. So ein Blindenhund ist ja sehr praktisch, wie du weißt, du hast ja selbst einen, sagte sie grinsend. Kurz und gut, es stellt sich heraus, der Mann ist gar nicht blind. Er hat keinen Blindenausweis, und er war bei einer Einvernahme durch einen Beamten im Kommissariat Innere Stadt geständig, außer einer Altersweitsichtigkeit keine Beeinträchtigung seines Sehsinns zu haben. Er wurde abgemahnt, aber in der Folge hat er diese Vorspiegelung von Invalidität, so steht es in meinem Akt, Vorspiegelung von Invalidität fortgesetzt, was zu regelmäßigen Störungen der öffentlichen Ordnung geführt hat. Daraufhin hat die Polizei das Gericht veranlaßt, ein Verfahren einzuleiten. Da dem Mann keine Betrugsabsicht nachgewiesen werden kann, etwa Erschleichung einer Invalidenrente - er hat ja nicht einmal die Menschen auf der Straße angebettelt, im Gegenteil, er hat sie niedergerannt -, kam es natürlich zu keinem Strafprozeß, und plötzlich habe ich den Akt auf meinem Schreibtisch im Pflegschaftsgericht und soll klären, ob ein Sachwalter bestellt werden muß. Mit so einem haarsträubenden Unsinn muß ich meine Zeit verbringen, sagte Maria. Ich fragte sie, warum denn der Mann so getan habe, als ob er blind sei. Eben, sagte sie, das habe ich auch wissen wollen. Ich habe also einen Termin für seine Anhörung gemacht, und die war heute. Du, der Mann ist einfach ein Querulant, glaube ich. Weißt du, was er gesagt hat? Mir ist bekannt, hat er gesagt, daß Invalidität das begehrteste Privileg in Österreich und daher das Lebensziel jedes Österreichers ist. Aber er wollte sich weder als Invalide ausgeben, noch sonst ein Privileg haben. Und schon gar keine Almosen. Aus diesem Grund haber er auch diese sogenannte Ehrengabe nicht angenommen, diese viertausend Schilling, die die Republik Österreich den Überlebenden der Judenverfolgung gespendet hat. Es sei einfach so, hat er gesagt, daß er das alles nicht mehr sehen könne, was man sieht, wenn man offenen Auges durch die Straßen geht. Es sei also ein natürlicher und gesunder Reflex, daß er davor die Augen verschließe. Ich habe ihn gefragt, was denn so schrecklich an dem ist, was es zu sehen gibt. Daraufhin hat er mir elendlang sein Leben erzählt, ich habe versucht, ihn zu unterbrechen, aber er hat einfach immer weitergeredet. Er soll meine Frage beantworten, habe ich gesagt. Genau das versuche ich ja, hat er geantwortet. Ich fragte Maria, was er denn erzählt habe. Was weiß ich, sagte sie, er hat geredet und geredet, sein ganzes Leben wollte er mir erzählen, du kannst dir ja vorstellen, ich meine, das ist ja bekannt, daß es sehr schwierig war für diese Generation. Aber ich halte eben diese alten Männer nicht mehr aus, die heute noch so gern vom Krieg erzählen, oder vom Bürgerkrieg. Welcher Bürgerkrieg, fragte ich. Erste Republik oder Spanien? Wie bitte? Ach so, Spanien. Ja, von Spanien wollte er auch erzählen, glaube ich, ich weiß es wirklich nicht, viel gekämpft hat er halt, und so habe ich ihn noch einmal gefragt: Was ist denn das Schreckliche, das Sie sehen, sind das die Bilder aus der Vergangenheit, die Sie nicht losbekommen? Der Fernsehapparat lief noch immer. Jetzt begann die Werbung zwischen Wetterbericht und den Kulturnachrichten. Ich war hochgradig irritiert, wollte am liebsten aufstehen und den Apparat ausschalten, befürchtete aber, Maria zu unterbrechen. Nein, hat der Alte gesagt, es sind die Bilder der Gegenwart. Ich verstehe das nicht, habe ich gesagt, er könnte doch froh sein, daß es Frieden gibt und nicht mehr diese politischen Wirren und dieses furchtbare Elend. Und stell dir vor, was er jetzt sagte. Er sagte: Na sehen Sie es denn nicht, Frau Rat? Nein, habe ich gesagt, ich sehe es nicht, was so furchtbar sein soll. Darauf er: Sehen Sie, Frau Rat, ich möchte mich jetzt, auf meine alten Tage, besser anpassen, drum mache ich eben die Augen zu, damit ich es auch nicht sehe. Das hat er gesagt? fragte ich. Ja, sagte Maria, der Mann ist krank im Kopf. Und was hast du gemacht? Nichts. Ich hatte nur zu klären, ob die Voraussetzungen für Sachwaltschaft vorliegen. Die liegen nicht vor. Ich kann ihm ja nicht einen Sachwalter mitgeben als Blindenhund. Der Mann rennt wahrscheinlich jetzt gerade wieder in der Stadt als Blindgänger herum. Ein kleiner Spinner, was willst du machen? Ich saß zurückgelehnt da, mit geschlossenen Augen, in meinem Kopf hallte Marias Stimme nach und dröhnte eine Waschmittelwerbung. Können wir nicht diesen verdammten Apparat ausschalten? fragte ich. Nein, warte, sagte sie, ich will noch die Kultur sehen. Ich war nicht mehr imstande, ein Wort mit ihr zu reden. Sie merkte natürlich bald, daß etwas zerrissen war, auch wenn sie offenbar nicht verstand, warum. Wir gingen essen, sprachen aber kein Wort, ausgenommen beim Bestellen. Ich trank schneller und mehr als gewöhnlich. Maria sah mich fragend an. Als sie mich schließlich fragte, was ich denn hätte, verstand ich nicht gleich. Ich hatte meine Sinne nicht beisammen. Ich hatte erwartet, eine Sprechblase zu sehen, wenn sie etwas sagt, und das Gesagte lesen zu müssen und nicht zu hören. Aber ich konnte den Satz nicht sehen. Was hast du denn? fragte sie nochmals. Ich gab keine Antwort. Als ein Rosenverkäufer das Lokal betrat, beugte sich Maria weit über den Tisch zu mir herüber, berührte mich am Arm und sagte: Schenk mir eine Rose und laß mich allein!
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