Lasst uns nicht zurück!

Pandemie Am Umgang mit der „Risikogruppe“ muss sich einiges ändern, sagt Juniorprofessor Klaus Birnstiel, der auf Pflege angewiesen ist
Ausgabe 04/2021
Lasst uns nicht zurück!

Grafik: der Freitag

Seit Beginn der Pandemie ist viel von der „Risikogruppe“ die Rede: Menschen, die aufgrund von Vorerkrankungen, chronischen Krankheiten oder Behinderung einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, im Falle einer Ansteckung mit dem Virus an der Covid-19-Pneumonie zu versterben. Diese Menschen besonders zu schützen, so lautet die Parole. In den sozialen Medien haben sie sich ein Gesicht gegeben – als Töchter und Söhne, Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, als Engagierte und Kreative, als Arbeitnehmer und Intellektuelle, als Menschen. Der Impfplan der Bundesregierung sieht sie als bedauernswerte, aber zu vernachlässigende Kohorte in einer Statistik. Dass es am Anfang der Impfkampagne Engpässe und Lieferschwierigkeiten geben würde, war ebenso absehbar wie das politische und mediale Gezeter im Angesicht dieser Lage. Was kaum diskutiert wird, ist die ungerechte Verteilung: Menschen, die chronisch erkrankt oder behindert sind, aber nicht in Fürsorgeeinrichtungen leben, fallen nicht unter die Priorisierung.

Aktivisten wie Raul Krauthausen und Constantin Grosch haben bereits eindrücklich geschildert, was es heißt, sich seit bald einem Jahr auf eigene Faust gegen Corona schützen zu müssen, wohl wissend, dass die persönliche Erkrankungsgefahr ungleich größer ist als die für den gesünderen Bevölkerungsdurchschnitt. Oftmals organisieren solche Menschen ihren Pflegebedarf selbst, betreiben und leiten eigene Pflege- und Assistenzteams. Seit Ausbruch der Pandemie sind sie auf sich allein gestellt. Weder wurden sie mit Handschuhen, Masken oder Desinfektionsmittel versorgt, noch hilft ihnen jemand dabei, sich und ihre Pflegepersonen vor einer Ansteckung zu schützen. Die Anti-Corona-Spritze ist für sie der einzige Lichtblick – nicht erst im September, sondern jetzt. Dabei geht es nicht um Privilegien. Auch behinderte und chronisch kranke Menschen versuchen, sich und andere zu schützen, halten Abstand, tragen Masken. Wer für die kleinsten Dinge des Lebens die Unterstützung anderer braucht, kann sich aber schlicht nicht schützen wie in einem Hochsicherheitslabor. Das Letzte, was beispielsweise ein zu Hause lebender Beatmungspatient mit reduzierter Lungenfunktion braucht, ist eine Infektion mit Covid-19.

Dass es solche Menschen gibt, weiß auch der Bundesgesundheitsminister. Schließlich hat er im vergangenen Sommer die gesetzliche Grundlage dafür gelegt, selbstständig lebende Menschen mit Behinderung in die Pflegeheime zu zwingen. Jens Spahns „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz“ sieht, getarnt als „Qualitätssicherung“, eine kostensparende Zwangsverlegung Schwerstpflegebedürftiger in geschlossene Einrichtungen vor, sofern der krankenkasseneigene Medizinische Dienst zu dem Schluss kommt, dass das für sie das Beste ist. Über die Details zu diesem Gesetz brütet noch bis Dezember 2021 der landestypische Verwaltungs-Orkus aus Ärzte- und Kassenvertretern. Pandemische Ironie: In dem Moment, in dem sich der zu Hause versorgte Pflegebedürftige in Spahns „Qualitätsheim“ begeben muss, um dort nicht nur seine Selbstständigkeit zu verlieren, sondern sich auch einer noch einmal deutlich erhöhten Gefahr der Infektion mit allem Möglichen auszusetzen, wandert er von Impfberechtigungsgruppe vier oder drei in Gruppe eins. Fröhlich empfängt er den mobilen Impftrupp. Anschließend wendet er sich wieder dem Fernsehprogramm zu.

Das Gedankenspiel zeigt, wie wenig der Wahn, die Pandemie von oberster Stelle mit einer Murks-anfälligen Bürokratie zurückdrängen zu wollen, mit der Lebensrealität vieler Menschen zu tun hat. Eine Pandemie bekämpft man nicht mit Paternalismus. Das gilt für die Situation in Kitas und Schulen, deren Aufgaben auf die Familien – und das heißt: vor allem auf die Frauen – abgewälzt werden. Es gilt für das ewige Hin und Her zwischen der Ankündigung von Maßnahmen mit begrenzter Wirksamkeit und nicht zu haltenden Öffnungsversprechen. Es gilt für den Medizin- und Pflegesektor, dessen Bedienstete seit bald einem Jahr allein auf weiter Flur stehen. Und es gilt für den Umgang mit der „Risikogruppe“. Die derzeitige Bewirtschaftung des Impfstoffmangels mag ethisch nicht einwandfrei, pragmatisch aber vorübergehend unvermeidbar sein. Sobald sich das Impfstoffangebot verbessert, muss die Verteilungslogik überdacht werden. Menschen mit einem erhöhten Erkrankungs- und Sterberisiko brauchen dann einen Zugang zur Impfung, schnell und unbürokratisch.

Klaus Birnstiel ist Juniorprofessor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Greifswald, wo er zur Literatur des 18. Jahrhunderts und Poststrukturalismus forscht. Er publiziert auch bei Aktion Mensch und lebt mit 24-Stunden-Assistenz

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