Die Finanzmarktkrise ist ein klassisches Beispiel für nicht nachhaltiges Handeln." Mit diesen Worten schlug Bundeskanzlerin Angela Merkel auf der Jahrestagung des Rates für Nachhaltige Entwicklung am 17. November die Brücke zwischen der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Aus berufenem Munde bedeutender Wirtschaftsführer ist zu hören, wir befänden uns in einer Systemkrise. Politiker fordern das "Primat der Politik" ein.
Ist es nur Rhetorik, wenn die Kanzlerin betont, kurzfristige Gewinnmaximierung sei das genaue Gegenteil von nachhaltigem Handeln und auch in Zeiten der Wirtschaftskrise dürfe man von den Klimaschutzzielen nicht abrücken? Die Bundesregierung hat Ende Oktober 2008 ihren neuesten Fortschrittsbe
schrittsbericht zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie von 2002 vorgelegt. Was die handfesten Ergebnisse angeht, ist Skepsis angesagt. Das zeigen auch die Kritik des Nachhaltigkeitsrates und der Bericht der Bundesregierung selbst. Und jüngst hat das Wuppertal-Institut eine neue Studie "Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt" vorgelegt, die detailliert das Scheitern der herrschenden Politik angesichts der globalen Herausforderungen belegt: einige Schritte in die richtige Richtung, aber zu wenig, zu langsam, in den alten Bahnen und ohne den erforderlichen qualitativen Sprung.Derzeit erleben wir die Kumulation der ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Krisen und nehmen ihren Zusammenhang wahr, auch wenn uns die Globaltheorien von Politik und Gesellschaft in den letzten 20 Jahren abhanden gekommen sind. Wir wissen, was notwendig wäre, wir wissen auch im Prinzip, wie es gehen könnte. Aber wie lässt es sich durchsetzen - jenseits der Phantasie, das Winterpalais zu stürmen? Wie lässt sich der viel beschworene Konsens für einen neuen "Gesellschaftsvertrag" erreichen, der "aufgeklärte Eigeninteressen" voraussetzt?Perspektivwechsel: Auf der UN-Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro wurde das Leitbild der Nachhaltigkeit im politischen Diskurs verankert. Ein ganzheitlicher Blick auf den Planeten und seine Zukunft fand seinen Niederschlag in einem umfassenden Reformprogramm auf internationaler Ebene, der Agenda 21. Viele politische Kommentatoren sahen darin nur eine rhetorische Übung. Doch zu ihrer Überraschung entwickelte die Agenda eine erstaunliche politische Eigendynamik - von der Verpflichtung, nationale Strategien vorzulegen, über die Bewegung der Lokale-Agenda-21-Initiativen bis hin zur "UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung". Auch wenn dies natürlich noch nicht bedeutet, dass die harte Interessenpolitik der Staaten überwunden wird.Aber noch immer wird unterschätzt, dass sich im Gefolge von Rio ein neuer Typus von politischen Strategien herausgebildet hat. Eine wissenschaftliche Fundierung der Politik wie beim Klimawandel, quantitative Ziele, die anhand von Indikatoren gemessen werden, Aktionspläne, die einem Monitoring unterworfen sind, gesellschaftliche Partizipation als integraler Bestandteil der Formulierung und der Umsetzung der Politik - all das hat es auch schon früher gegeben. Neu sind jedoch die Bündelung in einer umfassenden nationalen Strategie und ihre institutionelle Verankerung. So kündigt die Bundesregierung in ihrem Bericht die Einführung einer Gesetzesfolgenabschätzung nach den Maßstäben der Nachhaltigkeit an.Es ist der politische Anspruch, der aufhorchen lässt, wenn die deutsche Regierungsspitze, stärker als jemals zuvor, "Nachhaltigkeit" als Leitprinzip der Politik hervorhebt. Mehr noch: Die Kanzlerin gesteht sogar ein, dass die "Vieldimensionalität", die damit verbunden ist, der Politik schwerfällt. Damit gerät die Orientierung auf das "Ganze" und die notwendige Integration der verschiedenen Politikbereiche zur Lösung der Probleme wieder ins Blickfeld.Hier regte sich bereits früher der Widerstand. Dem Vernehmen nach war es eine Initiative der chemischen Industrie, die dem Ansatz von Rio, der auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die gerechte Befriedigung der Bedürfnisse insbesondere im Süden zielt, ein anderes Modell entgegensetzte: Ökologie, Ökonomie und Soziales wurden nun nicht länger als drei Dimensionen, sondern als drei gleichberechtigte Säulen der Nachhaltigkeit definiert.Damit wird dem Prinzip der Politikintegration aber die politische Spitze genommen. Es geht nicht mehr um die Lösung der Zukunftsprobleme, sondern lediglich um den Interessenausgleich zwischen den gesellschaftlichen "Bereichen" oder ministeriellen Zuständigkeiten. Politik wird nicht mehr dadurch bestimmt, welche Interessen Teil der Ursachen sind und damit Teil der Lösungen sein müssen, sondern allein durch Macht und Durchsetzungsfähigkeit. Der Fortschrittsbericht stellt nun endlich klar, dass die Bundesregierung das Politikverständnis des "Säulenmodells" nicht teilt - was einigen Akteuren gar nicht gefallen wird.Hier zeigt sich: Eine Politik der Nachhaltigkeit ist mehr als Umweltpolitik. Wenn Ökologen diesen Ansatz von vornherein als Verwässerung kritisieren, verkennen sie den entscheidenden strategischen Stellenwert des Integrationsprinzips: das ganze politische Terrain zu besetzen.Für den "klassischen" Naturschutz war es eine echte Herausforderung, dass die Verbindung von Schutz und wirtschaftlichem Nutzen der biologischen Vielfalt Gegenstand der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie wurde. Die Integration des Umweltschutzes in alle Politikbereiche ist hingegen eine alte Forderung. Umgekehrt gilt jedoch ebenso: Umweltpolitik muss die ökologischen Kosten und sozialen Folgen berücksichtigen - freilich ohne dabei in die Falle zu tappen, sich auf Win-Win-Situationen reduzieren zu lassen. Die ökologischen "Leitplanken" der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen bilden, wie es der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung herausgearbeitet hat, für die wechselseitige Politikintegration natürlich eine absolute Grenze.Politikintegration als Hebel, um das Primat der Politik durchzusetzen - das ist der Kern jeder wirksamen Nachhaltigkeitsstrategie. Das Leitbild der Nachhaltigkeit bietet die Orientierung für einen ökologisch-sozialen "New Deal", der den Weg aus der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise weisen kann.www.dialog-nachhaltigkeit.dewww.nachhaltigkeitsrat.de.Eine ausführliche Fassung des Artikels erscheint in der Januar-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.