Lauschangriff 1/05

Kolumne Eine englische Leserschaft wäre zutiefst beeindruckt, wenn ein Journalist erzählen würde, dass er mit Ian Brown zur Schule gegangen ist. Hierzulande ...

Eine englische Leserschaft wäre zutiefst beeindruckt, wenn ein Journalist erzählen würde, dass er mit Ian Brown zur Schule gegangen ist. Hierzulande hält sich das Staunen in Grenzen, obwohl ich vor kurzem einem Verkäufer in einem Hamburger Plattenladen mit der Geschichte imponieren konnte. Ian Brown, der ehemalige Sänger der aus Manchester stammenden Band The Stone Roses, wird in Großbritannien wie ein Heiliger verehrt. Die anhaltende Popularität seiner alten Band, die nur zwei Alben veröffentlicht hat, ist ein Phänomen. Als ich vor zwei Jahren im Rahmen eines Films über die Musikszene von Manchester für Arte ein Interview mit Ian Brown in der unmittelbaren Nähe des "Old Trafford Stadiums" von Manchester United an einem Fußball-Spieltag führte, dauerte es Stunden, bis wir mit dem Dreh fertig waren, weil so viele Leute nach einem Autogramm fragten. Die wichtigste englische Musikzeitung, der New Musical Express, fragte ihre Leser einmal nach den Lieblingsplatten aller Zeiten. Auf Platz 1 landete das 1989er Stone Roses-Debütalbum The Stone Roses. Und ich ging mit Ian Brown und mit dem Stone Roses-Gitarristen John Squire zur Schule! Sie waren zwei Jahre jünger als ich, aber wir hatten zum Teil dieselben Lehrer, und ich war in einer Band, bevor sie eine Gruppe gründeten. Nur brachten sie es ein bisschen weiter als ich, und Ruhm ist nicht ansteckend, und es ist natürlich völlig irrelevant für mein Leben, dass wir alle die "Altrincham Grammar School for Boys" besuchten. Irrelevant, aber lustig.

Mit dieser Vorgeschichte ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die Ian-Brown-Solokarriere in England größere Fortschritte gemacht hat als in Deutschland. Nach der verbittert ausgefochtenen Trennung von Stone Roses im Jahr 1996 wollte Ian Brown erst mal nichts mehr mit Musik zu tun haben, sondern Gärtner werden. Man vermutete, dass John Squire die kreative Kraft der Band gewesen wäre und tippte deshalb eher bei ihm auf eine erfolgreiche Solokarriere. Acht Jahre später sieht es anders aus. Nach einem Album mit der neuen Band Seahorses und nach einer Soloplatte ist John Squire in Vergessenheit geraten. Ian Brown dagegen hat mittlerweile vier Soloplatten gemacht, alle waren große Charterfolge in seiner Heimat. Das aktuelle Werk Solarized ist das erste Album, das keinen großen künstlerischen Schritt nach vorne macht. Vielleicht hat er sich an den Dauerzustand der Popularität gewöhnt.

Das Album ist nur 36 Minuten lang. Das finde ich für heutige Verhältnisse, bei einer potenziellen CD-Länge von 74 Minuten, ein wenig verdächtig, aber wir wissen, dass manchmal weniger mehr ist. Brown genießt seine Manchester-Berühmtheit. Das Eröffnungsstück Longsight M13 bezieht sich auf das dortige Arbeiterviertel Longsight, wo "Free Ian Brown" Graffiti noch überall zu sehen sind. Vor fünf Jahren hat Brown drei Monate im "Strangeways"-Gefängnis in Manchester gesessen (ja, das Gefängnis, das auf der The Smiths-Platte Strangeways here we come thematisiert wurde), weil er eine Stewardess von British Airways auf der Strecke zwischen Paris und Manchester beleidigt haben soll. Er bestreitet den Vorwurf noch heute. Der Zwischenfall trug zu seinem Rock´n´Roll-Image bei und hat lediglich den Nachteil, dass er nie wieder mit British Airways fliegen darf. Die Single Keep what you got entstand in Zusammenarbeit mit Noel Gallagher von der ebenfalls aus Manchester stammenden Band Oasis. Das Lied propagiert künstlerische Erneuerung, aber es ist das schlichteste Lied auf dem Album. Am interessantesten ist Time is my everything. Anscheinend ist Brown von seiner mexikanischen Frau positiv beeinflusst worden. Das Stück beinhaltet eine mexikanische Trompete, gespielt von Tim Hutton von Groove Armada. Auf den vergangenen Soloplatten gab es eine gesunde Mischung aus Songs und Grooves. Bei Solarized sind die Grooves in der Überzahl. Nicht uninteressant ist der arabische Einfluss bei Stücken wie One Way to Paradise. Brown war immer "gelegentlich" politisch. Das Protestlied des Albums heißt Kiss your lips (No I.D.). Er äußert darin seine Bedenken gegenüber den Personalausweisen, die in England eingeführt werden sollten, um Kriminalität zu bekämpfen. Stimmlich ist Ian Brown in Hochform. Und als Lokalpatriot versucht er nicht erst, seinen Manchester-Akzent herunterzuspielen. So souverän wie Brown hier auch klingen mag, das Album Solarized kommt mir eher wie ein Zwischenstopp vor.


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