Lauschangriff 13/07

Medien Klassik-Kolumne

Oft sind es die ersten Töne und Takte, bei denen die Entscheidung fällt: Gelungen oder nicht? Ein persönliches Urteil, Kritik ist keine Wissenschaft. Diesmal Simon Rattle, dessen Reputation sich zuletzt nicht immer beglaubigte in dem, was man vom Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker so dirigiert hörte. Sein Repertoire auf Tonträgern ist umfangreich. Haydn war, sehe ich es recht, bisher nicht dabei, Haydn, von dem mir Rattles Schüler Daniel Harding einmal sagte, er sei der Prüfstein für das, was ein Orchester wirklich könne.

Also die Symphonie G-Dur Nr. 88, die zu zwei Nachzüglern eines Zyklus gehört, den Haydn bei seiner ersten Parisreise 1787 im Koffer hatte. Nr. 88 muss in der Zeit vor dem Sturm auf die Bastille zur Aufführung gekommen sein; sie hatte einen Erfolg, der Haydn dazu animierte, dasselbe in London zu versuchen, wo der Zuspruch noch größer war.

Rattle steigt in die langsame Einleitung des Kopfsatzes - es geht, erst in einem Terzsprung, dann in einer Sexte, munter aufwärts - mit einem beherzten Forte ein. Er nimmt die zweite Hälfte der eröffnenden Sequenz - der Notenverlauf hat die Aufwärtstendenz verloren - dynamisch deutlich zurück. Das Ganze wiederholt sich in leicht abgewandelter Form. Der Sextsprung ist nun verspielt ins Weiche gebettet, an anderer Stelle wechselt der Dirigent, wo die Bögen vorher auf den Saiten sprangen, in breites Legato.

Alles Weitere bestätigt den Eindruck. Angeregt von der historischen Aufführungspraxis - der Engländer dirigiert seit Jahren auch das Orchestra of the Age of Enlightenment - wirkt Rattle mit an der Befreiung Haydns vom Zopf der Gedanken- wie der Witzlosigkeit.

Seit Haydn gehört das Konzertante auf neue Weise zum Wesen der Sinfonie. Die Art, wie er das einzelne Instrument aus dem Gesamtklang hervortreten und brillieren lässt, war zu seiner Zeit einzigartig und zugleich richtungweisend weit über die unmittelbaren Nutznießer Mozart und Beethoven hinaus.

Dieses Unerhörte möchte man noch heute spüren. Und bei Rattle spürt man es. Er bringt damit eine Entwicklung zur Reife, die er mitinitiierte: Rattle war ein früher Grenzgänger zwischen den Fronten, die jahrzehntelang einerseits Spezialisten auf "originalen" Instrumenten und andererseits Orchestermusiker auf modernem Instrumentarium trennten. Er war einer der Ersten, der die Grenze von der konventionellen Seite her überschritt. Aus der entgegen gesetzten Richtung kommend, ließ sich Ende der 1990er Jahre der "Ur"-Spezialist Nicolaus Harnoncourt von den Weltspitzenensembles auf modernen Instrumenten dazu einladen, sie in die Geheimnisse der historisierenden Aufführungspraxis einzuweihen.

Damals gehörten zum Kreis der Gelehrigen die Berliner Philharmoniker, die jetzt die Frische und Originalität des von den Historischen kreierten - freilich nicht immer auch optimal aufgeführten - Stils verbinden mit dem luxurierenden Virtuosentum einer verjüngten Elitekapelle. Was sich allerdings gleichermaßen sagen ließe von der Österreichisch-Ungarischen Haydn-Philharmonie, die der ungarische Dirigent Adam Fischer eigens zusammengestellt hat für die von ihm gegründeten Haydn-Festspiele an dessen einstigem Arbeitsplatz im Esterhazy-Schloss in Eisenstadt am Neusiedler See.

Was den Österreichisch-Ungarischen, die aus den besten Wiener und Budapester Orchestern kommen, im Vergleich zu den Berlinern vielleicht fehlt an absoluter Weltklasse, machen sie wett durch ein Quäntchen mehr Schmäh. Als Kammerorchester können sie überdies ein minimales Plus an Elastizität und Durchhörbarkeit verbuchen. Ansonsten aber gibt es nichts zu rangieren: Rattle wie Fischer geben Haydn eine Substanz zurück, die sich erfüllt in Überrumplung der Hör-Erwartungen, in Unterfütterung musikantischer Ausgelassenheit durch souveräne Disposition und in steter Herausforderung des Intellekts durch mal subtilen, mal polterig offenen Witz. Beide Dirigenten bewerkstelligen das auf eine Weise, die Musikfreunde zum schönen Fanatismus stillen Genießens verführen wird. Was heißt still? Wer bei Haydn nicht gelegentlich schmunzelt, kann nicht bei der Sache sein. Und Schmunzeln - ist schon nicht mehr still.

Haydn: Symphonien Nr. 88-92+ Sinfonia Concertante - Berliner Philharmoniker, Simon Rattle; EMI 394237 2. Haydn: Symphonien Nr. 88 und 101 ("die Uhr") + Ouvertüre zu L´isola disabiata - Haydn-Philharmonie, Adam Fischer; MDG/note1 901 1441-6.


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