Lauschangriff 15/06

Musik-Kolumne Es ist das Genre der makabren, melancholischen Folkmusik, die der Gruppe Seachange ihre besondere Prägung verleiht. Wenn eine Band sich für eine ...

Es ist das Genre der makabren, melancholischen Folkmusik, die der Gruppe Seachange ihre besondere Prägung verleiht. Wenn eine Band sich für eine Murder Ballad als Eröffnungsstück eines Debütalbums entscheidet, ist eigentlich klar, woher der Wind weht. Anglokana hieß das Lied auf dem 2004 erschienenen Album Lay of the Land. Der Song erzählte von einem jungen Mann, der ohne Grund seine Freundin im Wald umbringt. Der besagte Wald ist auf dem Cover abgebildet: Vielleicht ist es Sherwood Forest, Robin Hoods Revier im Umkreis von Nottingham in der Mitte von England. Von dort kommen Seachange nämlich. Es ist kein Ort mit großer Musiktradition. Neuerdings aber scheint Nottingham an Bedeutung zu gewinnen. The Swarm und Amusement Parks on Fire, beide von dort, haben in letzter Zeit einiges Aufsehen verursacht. Die Stadt soll im Übrigen Crime City No.1 von Großbritannien sein. Vielleicht ist es allerhöchste Zeit, dass junge Leute dort ermutigt werden, zur Gitarre und nicht zur Waffe zu greifen.

Die Songs von Seachange handeln oft von sozialen Missständen. Sie sind ganz offenbar von ihrem Umfeld stark beeinflusst. Zackige Post-Punk Gitarren, die allgegenwärtige Violine von Joanna Woodnut, und die Predigerstimme des Sängers Dan Eastop machen die Besonderheiten dieser Band aus. Von der Attitüde her sind Seachange aber mehr Folk als Punk. Schon bevor man als Hörer die Qualität des Songwritings prüft, kann man von ihrem Sound eigentlich nur fasziniert sein: Sie haben schon gewonnen; wenn die Lieder an sich auch noch gut sind, erscheint das wie ein Bonus.

In dieser Hinsicht ist das neue zweite Album On fire, with love durchaus mit dem Vorgängerwerk vergleichbar. Auf beiden Alben gibt es grandiose Stücke genauso wie diverse Schwachstellen. Das ist keine Schande. Welches Album besteht ausschließlich aus Höhepunkten? On fire, with love sollte erst ein Doppelalbum werden. Zum Glück haben sie sich dann für 40 Minuten entschieden. Denn Seachange haben einen "limitierten" Sound. Es ist gewissermaßen immer wieder dasselbe: Es fällt ihnen leicht sanft zu sein, mit akustischen Gitarren und Violine. Sie schaffen aber eine Steigerung, die Songs können jederzeit an Dynamik und Aggressivität gewinnen. Die Stücke fangen oft melancholisch an, um sich dann immer mehr mit Wut zu vermischen. Das ist vielleicht etwas überzogen beschrieben, aber die Tendenz stimmt.

Es gibt keine Textbeilage zum Album. Das spricht für den Gesang von Dan Eastop, denn es ist auch nicht nötig. Er singt seine Texte so deutlich, dass man jedes Wort versteht. Eastop verfügt über eine faszinierende Stimme; er ist nicht wirklich im klassischen Sinne ein Sänger, er spricht fast mehr als dass er singt. Sein Gesang ist monoton, aber eindringlich. Wenn er singt: "She was the one they turned to, when all else seemed to fail, she was the one who listened, who gave herself up for it all" auf dem Stück Backward Glances glaubt man unmittelbar zu spüren, wie sehr er diese Person geschätzt hat, und wie er sie jetzt vermisst. Es gibt keine Trauer ohne Anlass. Man zweifelt für keine Sekunde, dass Eastop diese Person sehr geliebt hat.

Eigentlich sind Seachange wie Schwarzweißfotografie: Wenn man versucht rational zu erklären, warum man sie manchmal besser als Farbfotographie findet, kommt man in Schwierigkeiten. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass man sich bei Schwarzweiß-Fotografie eher auf das Wesentliche konzentrieren kann; man ist weniger abgelenkt. Dabei sind die Arrangements der Band kein klassischer Britpop. Die Geige ist ständig präsent und das neue Mitglied Neil Wells sorgt sogar stellenweise für Bläser, aber dennoch ist die Gesamtwirkung eindimensional - aber im positiven Sinne. Schnell gewöhnt man sich an die leise-laut Dynamik, und die Gitarre-Violine-Eintracht. Eastop würde nie a la Mark E. Smith losschimpfen; seine Mitteilungen sind bedächtig, seine Worte wohlüberlegt. Er hat die Penetranz eines Halleluja-Billys, der in der Fußgängerzone die Bibel hochhält und immer wieder dasselbe sagt. "I know I left you reeling, I know I left you thinking, I know I left you turning around and around" singt er auf dem Schlussstück In. Er scheint die Macht seiner Songs zu kennen und zu wissen, dass er eine zornig-melancholische Botschaft sehr wirkungsvoll vermitteln kann. Er wird nicht locker lassen.


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