Lauschangriff 16/04

Kolumne David Thomas sieht aus wie ein gestrandeter Wal. Auch als junger Mann war er sehr übergewichtig und gewissermaßen das Gegenteil von einem Sexsymbol. ...

David Thomas sieht aus wie ein gestrandeter Wal. Auch als junger Mann war er sehr übergewichtig und gewissermaßen das Gegenteil von einem Sexsymbol. Bei einem großen, massigen Körper vermutet man, dass eine gemütliche, etwas robuste Persönlichkeit dahinter steckt, aber Thomas strahlte im Gegenteil immer eine extreme Sensibilität aus. Seine erste Gruppe war Rocket from The Tombs. Er war der Sänger, aber er sah wirklich nicht wie ein Rockstar aus. Die Band spielte Punk, trotzdem lehnte Thomas Punk als "Phänomen" ab, weil er die Attitüde "kindisch und asozial" fand. 1975 gründete er die inzwischen legendäre Band Pere Ubu in seiner Heimat Cleveland, Ohio. Ihre frühen Songs reflektierten das emsige Treiben der Industriestadt Cleveland, und ihre Musik wurde als "Industrial Noise" bezeichnet. Der Sound war einigermaßen experimentell, aber je mehr Zeit verstrich, desto ausgeprägter wurde auch die Popdynamik der Band. Egal in welcher Phase, angespannt und leicht beklemmend war das Feeling der Band jedoch immer. Wer die pure Rockinnovation schätzt, sollte sich den Pere Ubu-Klassiker The Modern Dance von 1978 besorgen. Wenn man Exzentrizität mit Popcharme angenehmer findet, ist man mit The Tenement Year aus dem Jahre 1988 besser bedient. Pere Ubu lösten sich 1982 auf, kamen jedoch 1987-95 wieder zusammen und arbeiten seitdem immer noch gelegentlich miteinander. 2002 erschien sogar wieder ein Album, St. Arkansas.

David Thomas aber hat längst ein anderes Leben. The Pedestrians hieß die erste Band, die ihn als Solokünstler begleitete. Seit 1996 arbeitet er mit Two Pale Boys zusammen, mit denen er momentan auch auf Deutschlandtournee ist. "Die zwei blassen Jungs" sind einmal Andy Diagram, der wohl berühmteste Trompetenspieler aus Manchester, England, und Gitarrist Keith Moline, der früher bei They came from the Stars I saw them und Infidel war. Es handelt sich also um ein Trio. Ganz ohne Schlagzeug schaffen sie einen Sound voller Leben. Andy Diagram spielt Trompete durch Radioverstärker und Echomachines. Melodeon und Geige ergänzen die Arrangements, und immer ist Thomas´ einzigartige Stimme präsent. Eigentlich singt Thomas nicht; er redet, nörgelt, weint und lacht mit seinem Gesang. Das aktuelle Album heißt 18 Monkeys on a dead man´s chest. Bei den Songs handelt es sich letztendlich um amerikanische Folksongs einer neuen Art. Das Werk ist traurig, nostalgisch, humorvoll und bedrohlich. Lieder wie Brunswick Parking Lot und Nebraska alcohol abuse scheinen zwar genauso amerikanisch wie Bruce Springsteen zu sein, sind aber leider völlig ohne Bedeutung für die Mainstreamkultur Amerikas. Als Springsteen Born in the USA veröffentlichte, freute sich Ronald Reagan, weil er dachte, die Platte sei offensiv patriotisch. Springsteen musste extra betonen, dass die Songs eine sehr kritische Auseinandersetzung mit Amerika darstellten. David Thomas läuft nicht Gefahr, missverstanden zu werden. Sein Publikum ist die intellektuelle Minderheit, die keine Aufklärung braucht. Allerdings ist Thomas bei Weitem kein Snob. Er steht noch zu den primitiven Punkausflügen seiner ersten Band Rocket from the Tombs. Die Originalbesetzung spielte letztes Jahr wieder zusammen, und zwar zum ersten Mal seit 1975. Die Resonanz war während der Tournee so positiv, dass sie auf die Idee kamen, die Songs ihrer einzigen Platte Rocket Redux komplett neu im Studio einzuspielen, um die CD bei Konzerten zu verkaufen. Das Album war so gefragt, dass es dieses Jahr weltweit veröffentlicht worden ist.

Im Gegensatz zu einigen seiner Landsmänner hat Thomas viel Zeit in Europa verbracht. Er hat das pulsierende Leben in London kennen gelernt, als er 2002 bei einer Oper Shockheaded Peter im Albery Theater im Londoner Westend mitwirkte. Er ist seit über 20 Jahren immer wieder auf Tour auf dieser Seite des Atlantiks, und er arbeitet seit 1996 eng mit zwei Engländern zusammen. Dennoch ist die Musik von Thomas, vom Charakter her, durch und durch amerikanisch. Rocket from the Tombs und Pere Ubu hatten auch nie was mit englischem Punk und Pop zu tun. Es war die Cleveland, Ohio-Variante. Nun will er die romantische "Americana"-Attitüde auf seine spezielle Art und Weise fortsetzen.

David Thomas and Two Pale Boys auf Tour in Deutschland: 1. 7. Hamburg/Fabrik; 2. 7. Leipzig/Nato; 3/4. 7. Berlin/ Quasimodo; 13. 9. Frankfurt/Cookys; 14. 9. Halle/Objekt Fünf; 15. 9. Köln/Gebäude Neun, 16. 9. Bremen/Junges Theater.


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