Lauschangriff 19/03

Kolumne Es kommt nicht oft vor, dass ein Mensch aus Manchester einen Cowboyhut trägt. Vielleicht gibt es viele, die es gerne tun würden, aber es geht nicht. ...

Es kommt nicht oft vor, dass ein Mensch aus Manchester einen Cowboyhut trägt. Vielleicht gibt es viele, die es gerne tun würden, aber es geht nicht. Man würde in den Straßen der Stadt nicht nur belächelt, sondern möglicherweise verprügelt werden. Es kommt auch nicht oft vor, dass ein Künstler eine Platte macht, die zur einen Hälfte nach Kalifornien klingt, und zur anderen nach Manchester. Schon allein in dieser Hinsicht hat Tim Burgess, der neuerdings einen Cowboyhut trägt, gerade eines der unwahrscheinlichsten Alben des Jahres herausgebracht. Burgess lebt seit vier Jahren in Los Angeles. Der Rest seiner Band The Charlatans ist in Manchester geblieben. Als er sich dazu entschied wegen einer Frau nach Amerika auszuwandern, dachten seine Bandkollegen und die Fans, dass es der Anfang vom Ende sei. Hat doch eine Frau, Yoko Ono, schon einmal dazu beigetragen, dass eine wichtige Band sich trennt.

Burgess hat versprochen, dass es bei seiner Band nicht so käme, und bislang hat er Recht behalten. Seit seinem Umzug sind zwei wunderbare Charlatans Alben herausgekommen, Us and Us Only und Wonderland. Immer wenn er arbeiten musste, flog er brav nach Manchester und besuchte bei der Gelegenheit seine Mutter. Alles ist intakt geblieben. The Charlatans sind seit 1989 zusammen und erst jetzt hat Burgess sich dazu entschlossen ein Soloalbum zu machen. Die Band hat sieben Alben in vierzehn Jahren gemacht. Alle sieben Platten waren in England sehr erfolgreich, wo The Charlatans eine der populärsten Bands sind. Übrigens auch in Japan. Aber wer ist nicht "groß in Japan"? Global gesehen hat die Gruppe keine weiteren großen Kreise gezogen. In Los Angeles wird Burgess von niemandem auf der Straße erkannt. In England muss er alle zwei Minuten stehen bleiben, um Autogramme zu geben. In Deutschland sieht es auch eher finster aus. In Bars und Clubs hierzulande spielt man The Charlatans zwar recht häufig, aber immer nur ihre Single The Only one I know aus dem Jahre 1990(!).

Hierzulande ist die Zeit, The Charlatans betreffend, stehengeblieben. Die erwähnte Single nämlich war eine Hymne aus der Zeit des Raves. Zur Erinnerung: Rave war die Dance-Rock-Fusion, die in Manchester erfunden wurde. Happy Mondays, The Stone Roses, Inspiral Carpets und The Charlatans waren die kollektiven Pioniere dieses Riff-Orgel-Dancebeat-Sounds. Mittlerweile sind The Charlatans die Einzigen, die die Ära überstanden haben; die anderen sind längst vor die Hunde gegangen.

Tim Burgess erklärt das Überleben seiner Band damit, dass sie immer ein bisschen nebensächlich waren, im Vergleich zu den anderen Rave-Bands. Sie kamen nicht aus dem Stadtzentrum, sondern aus einem Vorort. Sie waren nicht so sehr von den Drogen der Rave-Zeit, wie zum Beispiel Ecstasy, geprägt. Wer keine so dominante Rolle spielt, verbraucht seine Energie nicht so schnell. Und das, obwohl ihr Keyboarder Rob Collins 1997 in einem Autounfall während der Aufnahmen ihres Album Tellin Stories ums Leben kam. The Charlatans haben sich ihre positive musikalische Ausstrahlung bewahrt. Der kräftige Hammondorgelsound in Verbindung mit Tim Burgess´s honigsüßer Stimme bildet noch immer die Basis ihres Sounds.

Diese markante Stimme ist auch das Problem seines Soloalbums. Es klingt wie ein "Lofi"-Charlatans Werk, billig in einem Hollywood-Appartment produziert. Schließlich hat er die Charlatans-Texte geschrieben und auch bei den Melodien hat er mitkomponiert. Es ist wie das Rolling Stones-Syndrom. Wozu ein Mick Jagger-Soloalbum, wenn es aus Rocksongs besteht? Wozu ein Tim Burgess-Album, wenn es aus hymnenartigen, schönen Popsongs besteht, die gute Laune verbreiten, wie Charlatans-Songs es immer getan haben? Die Musik der Charlatans vermittelt überwiegend erbauliche Stimmung, manchmal im krassen Gegensatz zu den düsteren Texten. Die Songs auf dem Tim Burgess Soloalbum I believe könnten durchaus Charlatans-Lieder sein. Der einzige Unterschied ist der extreme kalifornische Positivismus der Texte. "I believe in the spirit, I believe in the West Coast", I believe in the Californian soul" singt er. Er hat sich vom kalifornischen Sonnenschein beeinflussen lassen, und seine Frau ist mit Sicherheit ein Beachbabe - aber seine musikalischen Wurzeln liegen immer noch im regenreichen Manchester. Daran ist nichts zu ändern.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden