Lauschangriff

Musik Von jemandem, über den man wenig weiß, wird immer dieselbe Geschichte erzählt. Bei Dietrich Buxtehude (um 1637-1707) stimmt nicht einmal die: Denn ...

Von jemandem, über den man wenig weiß, wird immer dieselbe Geschichte erzählt. Bei Dietrich Buxtehude (um 1637-1707) stimmt nicht einmal die: Denn Johann Sebastian Bach, der Buxtehudes Tochter, weil sie zehn Jahre älter war und hässlich gewesen sein soll, angeblich nicht heiraten wollte und darum auf die Nachfolge Buxtehudes als Organist der Lübecker Marienkirche verzichtete, hatte bereits eine Frau.

Verbrieft dagegen ist, dass der 20-jährige Bach die Orgel-, Cembalo- und Vokalmusik des etwa 70-jährigen Buxtehude so sehr bewunderte, dass er 1705 von Arnstadt bis nach Lübeck wanderte, um dort die berühmten Abendmusiken zu erleben. Bach war so begeistert davon, Buxtehudes Schüler zu sein, dass er vier Monate blieb, obwohl er nur vier Wochen Urlaub hatte.

In den Abendmusiken schuf sich Buxtehude die Möglichkeit, wenigstens an den fünf Sonntagen vor Weihnachten auch Vokal- und Orchesterwerke aus eigener Produktion hören zu lassen. So etwas war normalerweise dem Kantor vorbehalten, und Buxtehude lediglich Organist. Schon damals klappte bürgerliche Kultur offenbar nur dank Sponsoring, die Kirchenkasse war notorisch leer; und Buxtehude ging unter wohlhabenden Kaufleuten und Bürgern mit dem Hut umher, um seine Sonderkonzerte zu ermöglichen.

Bei einem, von dem nicht einmal gewiss ist, ob er im holsteinischen Oldenburg oder im seinerzeit dänischen Helsingborg geboren wurde, wundert sich niemand, dass auch von seinen Werken nur ein Bruchteil überlebt hat. Nicht ein einziges der Oratorien ist erhalten, vom oratorienartigen Wacht! Euch zum Streit gefasset macht, bekannter als Das jüngste Gericht, hat man - anonym und undatiert - den Stimmensatz in der Universitätsbibliothek von Upsalla gefunden. Die Autorschaft ist umstritten. Der Organist, Cembalist und Dirigent Ton Koopman, der zur Zeit auf eigenem Label Buxtehudes Gesamtwerk herausbringt, hegt "allerdings nicht den geringsten Zweifel", dass er, nachdem er die Partitur rekonstruiert und Fehlendes aus Eigenem ergänzt hat, einen echten Buxtehude aufführt.

Wacht! wirkt, besonders im ersten der drei Teile, dramatisch und munter wie eine Oper. Tonarten, Rhythmen, Sängerzahl und Stimmlage wechseln ständig; wenige Stücke sind länger als zwei Minuten. Trotz der etwas tumben Texte ("Schindet, schabet, kratzet, raufft,/dass ihr Geld zusammen haufft") macht sich die Libretto-Idee bezahlt, die drei Protagonistinnen säkularer Verderbtheit ("Geitz, Leichtfertigkeit und Hoffahrth") mit einer himmelsobrigkeitlichen Stimme zu konfrontieren, die von herrlich schnarrendem, harmonisch schrägen Orgelregistern begleitet wird. Das Stück hat so viel Schönheiten, Kraft und Witz, dass man die Begeisterung des jungen Bach versteht.

Bach wird auch Buxtehudes Cembalomusik kennen gelernt haben. Denn es dürfte kein Zufall sein, dass seine Jahrzehnte später entstandenen Goldberg-Variationen 32 Stücke enthalten, exakt so viele wie Buxtehudes brillanter Variationenzyklus La Capricciosa. Dessen Thema verdankt sich nicht, wie der Untertitel mitteilt, einer aria d´inventione. Sondern einer schon damals verbreiteten Volksweise, die sich bis heute in Oh, du Fröhliche und Pete Seegers 68er-Hit We shall overcome erhalten hat. Sie begegnet uns in der vorletzten der Bach´schen Goldberg- Variationen, dem Quodlibet.

In Nummer 27 parodiert Buxtehude einen schlechten Cembalisten. Es erklingen - für den Barockgeschmack - zu viele Ornamente, alle auf falschen Tönen, rhythmisch und harmonisch regellos, mit abgehackten Linien und schwerer Hand. Der Mann war ein Genie - und hatte Humor. Wer hätte das gedacht von Dietrich Buxtehude!

Dietrich Buxtehude Opera Omnia I/Harpsichord Works 1, - Ton Koopman, Cembalo; Antoine Marchand/Challenge Classics CC 72240 (2 CDs). Opera Omnia II/Vocal Works 1, Wacht! Euch zum Streit gefasset macht BuxWV Anh. 3 - Stam/Isidro/Zomer/Blaze/Karasiak/Mertens Amsterdamer Barockorchester und Chor, Ton Koopman; Antoine Marchand/Challenge Classics CC 72241 (2 CDs).

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