Lauschangriff 21/95

Kolumne Zum Glück waren The Walkabouts keine Grunge-Band. Denn dann würde es sie bestimmt nicht mehr geben. Dabei hatten sie die richtigen Referenzen, um ...

Zum Glück waren The Walkabouts keine Grunge-Band. Denn dann würde es sie bestimmt nicht mehr geben. Dabei hatten sie die richtigen Referenzen, um eine zu werden. Sie kamen aus der Grunge-Heimat Seattle und waren auf dem selben Label wie die führenden Lichter der Bewegung Nirvana, Mudhoney, Tad usw. Ende der Achtziger herrschte in Seattle eine Art Selbstverpflichtung dazu, eine Mischung aus Heavyrock und Punk zu spielen. Die späteren Bandmitglieder der Walkabouts sammelten alle Erfahrungen bei Punkbands, mit Ausnahme der Sängerin Carla Torgerson: Sie sang nur Folkmusik. Allerdings sah sie auch nicht wie eine Rocklady aus, sondern eher wie eine Nonne. Von Anfang an war sie es, die den Sound der Walkabouts prägte. Weshalb auch Folk-Grunge der passende Begriff wäre für ihre frühen Platten. Auf ihnen gibt es durchaus düstere Gitarrenschichten, aber sie verknüpfen sich mit der Melancholie der amerikanischen Folkmusik.

Der Gesang war also immer schon die große Stärke der Band. Chris Eckman und Carla Torgerson sind beide leidenschaftliche und überdurchschnittliche Sänger. Ob allein oder im Duett, sie sorgen für eine reizvolle Variationsbreite. Eckman und Torgerson haben sich einst in einer Fischfabrik auf Alaska kennen gelernt. 1985 kamen die Walkabouts als Band zusammen. 20 Jahre später machen sie immer noch neue Platten. Offenbar sind Eckman und Torgerson unzertrennlich. Sie haben zwar versucht, ohne einander auszukommen, aber die Trennungsphasen haben nicht funktioniert. Chris Eckman zog nach Lissabon und hatte 2003 sein Soloprojekt The Black Field; Carla Torgerson veröffentlichte 2004 ihr erstes Soloalbum Saint Strange. Nach einer dreijährigen Pause arbeiten sie nun wieder zusammen, obwohl Eckman inzwischen weit weg von den anderen Mitgliedern lebt, nämlich in Slowenien.

The Walkabouts waren immer schon Europa-orientiert, weil sie in ihrer Heimat so gut wie keine Anerkennung bekamen. In England kennt man sie auch nicht, dafür haben sie eine loyale Fangemeinde in Deutschland und Skandinavien. Für besonders hip hat man sie nie gehalten, aber sie sind über zwei Jahrzehnte interessant geblieben. Wenn man so lange dabei ist, muss man sich Vergleiche mit der eigenen Vergangenheit gefallen lassen. Das neue Album Acetylene gleicht nämlich dem 1993er Werk New West Motel: Es ist sehr "uptempo", sehr schlicht, sehr rigoros. Acetylene ist ein leicht entflammbarer Stoff, der zum Schweißen benutzt wird. Er brennt auf dem Albumcover und Eckmann singt: "The flame I breathe is acetylene". Damit möchte er zum Ausdruck bringen, dass er kein müder alter Mann geworden sei. Er will so etwas wie der Neil Young des Alternativrocks sein, denn Neil Young ist im Musikgeschäft das rare Beispiel dafür, wie man alt werden kann ohne ein Verfallsdatum zu überschreiten.

Im Vorfeld hatte ich mitbekommen, dass Acetylene im Umfeld der US-Wahlen entstanden sei. Ich hatte eine sehr politische Platte erwartet, was aber nicht wirklich eingetreten ist. Es sind keine einfachen Zeiten für anders denkende Amerikaner, die ihr Land kritisch betrachten, aber sich dennoch amerikanisch fühlen. Dieser Zwiespalt ist in den Songs bemerkbar. Es ist aber gewiss kein direktes Anti-Bush-, Anti-Irakkrieg-Album geworden. Michael Wells, der Bassist aus der Urbesetzung der Band, ist zum ersten Mal seit 1996 wieder mit dabei. Vielleicht erklärt das die "ursprüngliche" Stimmung der Platte. Es gibt zwar Bläser- und Geiger-Arrangements aber sie stehen nicht im Vordergrund; die raue Eckmann E-Gitarre dominiert. Die kommerziell erfolgreichsten Alben der Walkabouts waren die eher orchestralen Werke Devil´s Road und Night Town. Acetylene ist davon weit entfernt. Das neue Album beeindruckt mich in seiner Attitüde, aber über das Songwriting bin ich doch etwas enttäuscht. Wo sind die herausragenden Lieder? Wahrscheinlich muss ich mich nur noch ein bisschen gedulden. Wer die Band 20 Jahre als Fan begleitet hat, darf hohe Ansprüche haben, und deshalb freue ich mich auf jene neuen Klassiker, die Eckman und Torgerson ganz gewiss eines Tages wieder schreiben werden.

The Walkabouts auf Tour: 26. 8. Hameln Sumpfblume; 1. 9. Heidelberg Karlstorbahnhof; 2. 9. Krefeld Kulturfabrik; 3. 9. Berlin Columbia Club; 4. 9. Dresden Starclub; 6. 9. Hamburg Fabrik; 11. 9. Bielefeld Forum; 12. 9. Frankfurt am Main Brotfabrik; 13. 9. Bochum Bahnhof Langendreer; 15. 9. München Hansa 39; 17. 9. Geislingen Rätschenmühle.


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