Lauschangriff 22/03

Kolumne Die Nacht, könnte man meinen, macht sich breit in diesen Tagen. Zwar sind die Tage - mit Glück! - zauberhaft, tiefe Sonne, gut abgehangene Farben - ...

Die Nacht, könnte man meinen, macht sich breit in diesen Tagen. Zwar sind die Tage - mit Glück! - zauberhaft, tiefe Sonne, gut abgehangene Farben - Rilke! - und silbrig satte Luft, geradezu ein Sinnbild gelebten Lebens. "Ich liebte die heftigen Winde, die goldene Blätter von den Bäumen rissen", schreibt der Pianist Artur Rubinstein im wunderbaren ersten Teil seiner Memoiren. "Ich liebte die schnellen, segelnden Wolken, die kürzeren Tage, das freiere Pulsieren des Blutes." Aber wahrscheinlich kann man nur mit Rubinsteinischer Liebe im Herzen das Dunkel bestehen und es genießen und sogar gestalten, das auf die kürzeren Tage folgt.

Rubinstein, in Polen geboren, in der Welt zu Haus, gilt als Kapazität für die Musik Chopins; Chopin gilt als Fachmann für die dämmrigen Seiten des Lebens. Noch in schwankenden Walzern, in feurigen Polkas hat er den Schummer und Kummer erspürt und zum Klingen und Klingeln gebracht. Freilich, seine Nachtmusiken, die inkommensurablen Nocturnes, wachsen nicht allein aus den langen Nächten der kalten Jahreszeit. Vor allem in Rubinsteins Interpretationen, die sich weniger durch makellose Technik auszeichnen als durch instinktsicheres Gespür für die Balance zwischen Charme und Tragik, wachsen sie auch aus Sommernächten mit ihrem Zauber, in den, ganz anders als ein Halbjahr später, viel besser zwei passen als eine oder einer allein (The Chopin Collection, RCA/BMG GD 60822).

Mozart komponierte seine Nachtmusiken für ein Publikum, das, wie er selbst, Musik noch als weitgehend fürs Öffentliche bestimmtes Phänomen erlebte. Auch die Nacht dabei war öffentlich, ein Außenereignis, dem man - anders als wenig später die limitiert private und aufs Innen versessene Öffentlichkeit kerzenheller Salons - im Fackelschein einer größeren Gesellschaft im Freien beiwohnte. Die berühmteste Nachtmusik aus seiner Feder, im Titel heißt sie bescheiden die "kleine", ist wie die Serenata notturna ein Stück instrumentaler Gesellschaftsmusik, das viel von der Sinfonie hat, ohne ihr zu gleichen. Die Nacht darin: Nur äußerer Anlass, Aufführungszeitpunkt. Ihr Charakter: Charmant und spritzig, launig und verspielt (+ Sinfonie K. 201, Sinfonie K.22.; Concertgebouw Chamber Orchestra, Marco Boni, Pentatone DSD PTS 5186002).

Zwischen Mozart und Chopin liegt der Epochenbruch 1789 und das, was ihm an Verfall historischer Hoffnung folgte. In Mozarts späten Opern bis zu Cosi fan tutte und Zauberflöte finden sich Spuren davon, die weit übers Ahnen hinausgehen. Seine Nachtmusiken sind noch unschuldig, unberührt davon. Mit Chopins Übernahme der detto noch unschuldigen Nocturne-Erfindung des Iren John Field wendet sich - durchaus berührt - die Nacht nach innen, erscheint als Gestalt und Bühnenbild der Seele.

"Midnight" hat die russische Pianistin Anna Gourari ihr Konzeptalbum Nocturne übertitelt, ein Wort, das das Nocturne via Assoziationen rundherum um den Jazzstandard Round about midnight auf vergleichsweise uncrossoverhaft intelligente, ja poetische Weise ins Heute rückt. Was Gourari mit den ersten drei Stücken umreißt: Zuerst Field selbst. Dann Samuel Barber mit einer Hommage an denselben, mit fürs 20. Jahrhundert fieldhaft milder Modernität und süßer Lindnächtlichkeit. Wilhelm Killmayr zum Dritten demonstriert mit kunstvoll nächtigen Bruchstücken, die jeweils in den quasi weißen Flächen eines harten Einzelton-Ostinatos enden, die Unmöglichkeit, heute noch Nocturnes zu komponieren. Und hat es auf diese Weise dann eben doch wunderbar hingekriegt. Wie Chopins Landsmann Alexandre Tansman (1897-1986), dessen Nocturne höchst sparsam umgeht mit dem Material - und wie ein Wunder birst vor lauter Zauber. Dass dieser auch im Kopf stattfinden kann, demonstriert - man ist versucht zu sagen: auf gut Deutsch - Paul Hindemith in seinem Nachtstück.

Allein Gouraris Klavierkunst, in der sich Übersicht, Delikatesse und Gelassenheit in der Schwebe halten, ist es zu danken, dass selbst dieses Beispiel uneingelöster Form zu duften beginnt nach Rauch, nach Erde und den nachtkühlen Wonnen der Endlichkeit. Die Spitzen ihrer Finger scheinen die Tasten nur eben zu berühren beim Spielen, wahrlich eine Art Erotik, die trefflich zum Thema passt (Midnight. Nocturnes, Anna Gourari, DGG/Universal 447 114-6).

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