Lauschangriff 23/08

Musik Fast drei Monate nachdem der Pianist Esbjörn Svensson beim Tauchen in den Schären vor Stockholm tödlich verunglückt ist, veröffentlich nun das ...

Fast drei Monate nachdem der Pianist Esbjörn Svensson beim Tauchen in den Schären vor Stockholm tödlich verunglückt ist, veröffentlich nun das Münchner Label ACT Leucocyte das letzte Album von Svenssons Trio e.s.t.. Leucocyte ist ein erstaunliches Werk: monolithisch, düster und harsch und bis zum Anschlag geladen mit einer rätselhaften Energie, einer elementaren Kraft, die stets zu verneinen scheint. Unter normalen Umständen hätte man es vermutlich als eine Art Manifest gehört, als ein Befreiungsschlag, als einen gezielten Angriff gegen das eigene Image und gegen die Last der Erwartungen, die auf den Schultern des Trios ruhten. E.s.t. zählte im letzten Jahrzehnt zu den erfolgreichsten Formationen des Jazz und kämpfte offenbar mit der Routine. Unter normalen Umständen hätte man es für ein bemerkenswertes Album einer außerordentlich begabten Band gehalten, mutig und stark und ein wenig unnahbar. Ein Aufbruch in eine neue Phase, bestimmt eher von Sounds und Texturen als von Harmonie und Melodie.

Unter dem Eindruck der Ereignisse bekommen jedoch eine Reihe von Zeichen eine morbide Qualität. Die Dekonstruktion des Schriftbildes auf dem Albumcover, die medizinische Metaphorik des Titels, die Unterteilung des Titelstücks in die Teile Ab Initio, Ad Interim, Ad Mortem, Ad Infinitum: immer wieder spielt das Album, das bereits vor Svenssons Unfall fertig gestellt war, mit Motiven der Vergänglichkeit.

In einer Auftrittslücke während ihrer ausgedehnten e.s.t.-Tournee im vergangenen Jahr spielten die drei Musiker das Album in einer frei improvisierten, dreitägigen Aufnahmesession in einem altgedienten Studio in Sydney ein. Sie sollte wie die Leukozyten als Teil des Immunsystems im Inneren des Körpers den hygienischen Effekt haben, das Gehirn einmal so richtig durchzupusten, erklärten Dan Berglund und Magnus Öström, Bassist und Schlagzeuger des Trios. "Für uns war das eine Methode, unsere Systeme zu reinigen, etwas, was uns gesund hält." Das war keine fremde Situation für das Trio - die Improvisation gehörte von Anfang an zu den Stützpfeilern seiner Musik, und schon vor Jahren hatten die drei Musiker zwischen ihren Auftritten frei improvisierte Studiosessions eingespielt. Neu war die Radikalität, mit der die drei sich auf diese Improvisationen eingelassen haben. "Wir haben auch bei den Konzerten solche freien Improvisationen gespielt, zwischen den Songs, aber dann wurden diese Improvisationen länger und länger", beteuert Berglund.

Und rauer, wie das Album zeigt: die freundlich-harmonische Atmosphäre, die große Teile des Repertoires geprägt hat, die romantischen Harmonien und geradezu kantablen Melodielinien, mit denen e.s.t. die Improviation immer wieder auf ein leichter verdauliches Format zurückführte, sind für diese Session merklich in den Hintergrund verbannt. Die Gravitationsgesetze des Jazz sind ebenso außer Kraft gesetzt wie der Virtuosenkult oder die Dramaturgie der Verdichtung, die sonst den Jazz zu prägen pflegen. Statt dessen scheint die Musik manchmal stoisch auf der Stelle zu verweilen, um sich mit kratzig verzerrten Sounds in tiefere Wahrnehmungsschichten hinein bohren zu können. Der Jazz hat in diesen Momenten abgedankt, die Improvisation von e.s.t. verweist eher auf Bezugspunkte in der Punk-Avantgarde der achtziger Jahre, in der sakralen Musik des Mittelalters oder den Ritualen fremder Völker. Und winkt mit einer Minute der Stille als zweitem Abschnitt des Titelstücks (Ad Interim)freundlich in Richtung John Cage.

Nach dem Vorgängeralbum e.s.t. live in Hamburg, das die Musik des Trios noch einmal in voller Blüte präsentiert hatte, war Leucocyte zunächst als Standortbestimmung gedacht, mit Hilfe derer sich das Trio neue Wege hätte erschließen wollen. Nach dem Tauchunfall verwandelte sich das Album in ein Epitaph, mit dem Esbjörn Svensson einen viel weiteren Kosmos für sich beansprucht, als die Gattungsbezeichnung Jazz zu fassen vermag.

Esbjörn Svensson Trio Leucocyte, e.s.t. live in Hamburg (beide bei ACT/edel)

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