Lauschangriff 29/08

Musik Wer sich für Jazz interessiert, der hatte in diesem Herbst die Möglichkeit, zwei ältere Herren zu sehen (und zu hören), die in der Goldenen Ära des ...

Wer sich für Jazz interessiert, der hatte in diesem Herbst die Möglichkeit, zwei ältere Herren zu sehen (und zu hören), die in der Goldenen Ära des modernen Jazz, in den fünfziger und sechziger Jahren Geschichte geschrieben haben. Und in beiden Fällen war eine Energie zu spüren, an die man als Jazzhörer heute kaum noch zu glauben traut. Beide, sowohl Archie Shepp, Jahrgang 1937, der sich als einer der jungen Wilden an der Seite des Titanen John Coltrane Mitte der sechziger Jahre dem großen Publikum bekannt gemacht hatte, als auch Sonny Rollins, Jahrgang 1930, der schon zehn Jahre früher ins Rampenlicht getreten war, sind mittlerweile deutlich vom Alter gezeichnet. Beide kommen sie unsicheren Schrittes auf die Bühne, und beide wachsen sie im Laufe ihres Auftrittes, wachsen mit jedem Ton, den sie spielen, recken sich, strecken sich, vital und in vollem Besitz ihrer musikalischen Kräfte. Es sieht jedes Mal aus wie ein kleines Wunder, das real thing dieser Musiker. Und es klingt auch so.

Jung und wild sind die beiden Tenorsaxofonisten lange nicht mehr. Rollins hat schon in seinen Sturm-und-Drang-Jahren eher zu den aufgeklärten Traditionalisten gehört als zu den musikalischen Bilderstürmern. Was ihn aber nicht davon abhielt, an den Zäunen zu rütteln, die das Metier umgeben, und die Grenzen dessen, was gespielt und ausgedrückt werden kann, um Meilen ins Offene zu verschieben. Heute ist er mehr denn je seine einsame Insel, ein Musiker, der mit einer Band spielt, die mit den musikalischen Formen zurückhaltend umgeht, und damit den Raum schafft für die Sturzbäche von Rollins´ musikalischer Imagination. Vor dem verlässlichen Hintergrund seines Sextetts, kann er nach Belieben Motivketten verknoten, kann sein Zeitmaß am Puls der Songs reiben lassen, kann mit seinem Titanenton auf Konfrontationskurs gehen und dann in eine noch immer knurrige Ballade einschwenken oder in die luftigen Phrasierungen seiner karibischen Vorfahren.

Auch Archie Shepp hat sich in einer radikalen Wende nach den wilden Jahren der "Fire Music", ernüchtert von der schnell wachsenden Distanz zwischen seiner avantgardistischen Jazzgemeinschaft und dem schwarzen Publikum, den Standards zugewandt, den Kompositionen von Duke Ellington. Und dem Blues, immer wieder dem Blues. Und dabei ist er geblieben. Weite Teile seiner heutigen Programme bestehen aus einfachen Bluesnummern, ein gemächlicher Shufflebeat, zwölf Takte, drei Harmonien und nicht viel mehr: und dann lässt Shepp sein Saxofon klingen, bläst, nach wie vor unverkennbar, unorthodox mit einem ganz, ganz weiten Vibrato und gleitet mit weichen Legato-Schlieren durch die Oktaven. Richtige Töne oder falsche? Das ist hier die völlig verkehrte Frage - natürlich spielt Shepp die richtigen, aber weil er zum real thing gehört, weil er zu den Urhebern der Tonsprache des Jazz gehört, zumindest jener späten Auflage, an der er mitgeschrieben hat, entscheidet noch immer er selbst, was richtige Töne sind und was falsche.

So spielen beide in diesem Herbst das Vertraute, agieren vom Stand längst etablierter Errungenschaften aus, füllen es jedoch auf eine Art und Weise, die sich deutlich von allem abhebt, was man mittlerweile als Jazz zu hören gewohnt ist. Ob man nun wie Shepp mit instrumentaltechnischen Mitteln agiert, die - angesichts der Hochleistungsvirtuosen, die Musikhochschulen heute in Serie produzieren - limitiert erscheinen oder wie Rollins auf den Schultern einer zurückhaltenden Band: Beide kennen das große Geheimnis des Jazz. Es ist nicht das Material, nicht eine bestimmte Haltung oder eine fixe harmonische oder rhythmische Konzeption. Was immer sie auch spielen mögen, es ist ihre Musik, ihr Ton, der zu hören ist und der das große Kunststück vollbringt. In diesem Ton steckt das real thing.

Sonny Rollins This is what I do; Milestone 2000, Without a Song. The 9/11 Concert; Milestone 2005; Sonny Please; Doxy Records 2006; Road Shows: Vol. 1 (Live); Emarcy 2008. Archie Shepp First Take [live] Buy Now!; 2005; Kindred Spirits, Vol. 1; 2007; Gemini; 2007 (alle bei Archie Ball).

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