Lauschangriff 6/08

Musik-Kolumne Man hört: eine brüchige Melodielinie aus einem bekannten Jazzstandard, gehüllt in eine Wolke aus gegenläufig akzentuierten Akkordzerlegungen, ...

Man hört: eine brüchige Melodielinie aus einem bekannten Jazzstandard, gehüllt in eine Wolke aus gegenläufig akzentuierten Akkordzerlegungen, schließlich auch das Eingangsmotiv mit seinen charakteristischen Quartensprüngen, wenig später setzt ein Bass ein, verfällt in einen locker pulsierenden Schritt, dann das Schlagzeug. Man erkennt: Jerome Kerns All The Things You Are, einen der meistgespielten Jazzstandards. Und man erkennt auch wieder nicht. Die vertrauten Motive treten zurück, verschwinden hinter gewagt dissonanten Umdeutungen der Harmoniefolge, lassen neben sich weitere Stimmen aus der Komposition aufsteigen. Das Tempo löst sich auf, das fest gefügte Kontinuum von verlässlichen Akkordwechseln verflüssigt sich, gibt Raum für eine kollektive Improvisation, die sich im Kleinen noch immer auf das Ausgangsmaterial der Komposition bezieht, im Großen jedoch im weiten Land der Freiheit ihre Heimat hat. Anything goes - und wie.

Mit der Session im Januar 1983, bei der diese Aufnahme entstand, stellte sich ein Trio vor, das seitdem die Spannung zwischen Standards und Freiheit auf höchstem Niveau immer wieder neu umspielt. Mit dem Kontrabassisten Gary Peacock, dem Schlagzeuger Jack DeJohnette und dem Pianisten Keith Jarrett, der mit seinen frei improvisierten Solokonzerten längst eine andere Tür zur Freiheit aufgetan hatte, fanden sich hier drei Musiker zusammen, die gemeinsame Geschichten teilten und eher mit dem Free Jazz in Verbindung standen als mit dem modernen Mainstream, der die Sphäre der Standards bisher für sich reklamiert hatte. Innerhalb von zweieinhalb Tagen spielten die drei das Material für drei LPs ein, Standards Vol. 1 und Vol. 2, sowie Changes, die das Label ECM unter dem Titel Setting Standards - New York Sessions nun als Box wieder veröffentlicht hat. Und noch heute, ein Vierteljahrhundert und fünfzehn weitere Produktionen des Trios später, klingt diese Musik so frisch, individuell und wegweisend wie sie damals schon war: Während gerade eine neue Generation von Jazz-Traditionalisten antrat, das legitime Ausdrucksspektrum des Jazz auf die Reproduktion historisch erarbeiteter Formen einzuengen, schlug das Standards-Trio den entgegen gesetzten Weg ein und löste alle Grenzen zwischen Interpretation und freier Improvisation auf. Das Zusammenspiel von DeJohnette, Peacock und Jarrett setzte einen neuen Standard.

Solange es den Jazz gibt, ist die Kunst der Interpretation, der spielerischen Neuerfindung von vorgegebenem Material, eine seiner tragenden Säulen. Es geht darum, Songs und Kompositionen, die in anderen Zusammenhängen entstanden sind und häufig schon reichlich abgenutzt klingen, so zu spielen, als wären sie brandneu und ungebrochen die eigenen. Es geht um eine tragfähige Balance zwischen Vertrautem und Überraschendem, zwischen Überlieferung und Persönlichkeit, zwischen Respekt den vorgefundenen Melodien und Strukturen gegenüber und dem Drang, jeden Ton noch einmal neu zu erfinden, ihn in einen neuen Zusammenhang zu stellen und ihm eine neue Nuance, Farbe, Schwingung zu geben. Peacock, Jarrett und DeJohnette radikalisieren diese Spannung. In ihrem je eigenen Ton geben sie den vertrauten Motiven ihre gesangliche Unmittelbarkeit zurück, ihre subtile Harmonie und den rhythmischen Fluss, der sie trägt, doch die Mittel, die sie dafür anwenden, sind ihre ureigenen, durch die Erfahrung in freieren Kontexten gereiften. Auch bei ihnen geht es um Konzentration und um Beziehungen, um die Interaktion in einer Gruppe, die Fähigkeit, zuzuhören und aufeinander zu reagieren. Um Dinge also, die höchst fragil und persönlich sind und untrennbar mit dem Moment des Spiels verwoben. Schon aus diesem Grund ist es im Jazz häufig der first take, die erste Begegnung eines Musikers mit einem Stück, die den Test der Zeit übersteht. Auch hier wohnt jedem Anfang ein Zauber inne. Im Falle des Gelingens sind Interpretation und freie Improvisation keine Gegensätze mehr, sondern die beiden Seiten einer Medaille.

Keith Jarrett/Gary Peacock/Jack DeJohnette: Setting Standards - New York Sessions. 3-CD-Set (ECM/Universal)

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