Lauschangriff 9/03

Kolumne Kommerzielle Selbstmörder sind grundsätzlich die interessanteren Künstler. Wenn man einen weltweiten Erfolg feiert, wartet man nicht fünf Jahre, bis ...

Kommerzielle Selbstmörder sind grundsätzlich die interessanteren Künstler. Wenn man einen weltweiten Erfolg feiert, wartet man nicht fünf Jahre, bis man den Folgehit nachschiebt. Aber genau das taten The Cardigans. 1998 war ihr Jahr: Das Album Gran Turismo wurde als Pop/Rock-Wunder gefeiert. Die Hits My Favourite Game und Erase/Rewind gehörten zu den Größten des Jahres. Ganze Nationen von männlichen Musikfans verliebten sich in die Popdiva Nina Persson. In Japan gab es sogar Barbiepuppen von Nina (Barbie) und von Peter Svensson (Ken). Sie durften sogar bei Thomas Gottschalk in Wetten, dass... auftreten. Was wollten sie mehr?

Eine ganze Menge. The Cardigans fühlten sich immer ein bisschen unwohl in ihrer Haut. Die Band wurde 1992 in Jon Koping, Schweden, gegründet. Es war eine klassische "Indiepop"-Band, die, so wie der Name "Cardigans" - "Strickjacken" - andeutet, charmante, reine, liebliche Popsongs für das elitäre alternative Publikum schrieb. Das Debütalbum Emmerdale war ein überraschender Hit in Japan. Zu der Zeit waren sie zu Hause in Schweden ganz unbekannt. Es gefiel der Gruppe gar nicht, dass sie prompt in die "Easy Listening" Schublade gesteckt wurde, die sich überall zu der Zeit breit machte. The Cardigans protestierten vergeblich, ihre Wurzeln seien "Indie" und nicht Burt Bacharach. Das zweite Album Life festige ihren Erfolg, und brachte die beiden Hits Carnival und Sick Tired hervor. Die Europatournee der Gruppe wurde als "Easy Listening aus Schweden" vermarktet, und so fühlten sich The Cardigans zwar geliebt, aber unverstanden.

Der große Durchbruch kam 1996, als die Singleauskopplung Lovefool vom dritten Album First Band on the Moon Bestandteil des Filmsoundtracks von Baz Luhmann´s Film Romeo Juliet wurde. Der Song lief auf "Heavy Rotation" zu jeder Tageszeit bei jedem Radiosender. Nun war es höchste Zeit, den Leuten zu zeigen, dass sie eigentlich aus dem Indierockumfeld stammen. Also wurde Gran Turismo veröffentlicht. Das sehr glamouröse Image war so leicht aber nicht mehr abzulegen. Nina Persson konnte nichts dafür, dass sie wie Barbie aussah, und es war nicht Peter Svensson´s Schuld, dass er wie Ken aussah. Gran Turismo rockte auf glanzvolle Weise, und es sah so aus, als ob die Zukunft der Band Stadionrock sei. Das Interesse der Plattenfirmen ist es immer, dass die Bands schnell nachziehen, damit sie in der wankelmütigen Popwelt nicht in Vergessenheit geraten. The Cardigans streikten jedoch. Peter Svensson bastelte zu Hause herum, und produzierte Mainstreampop-Platten. Nina Persson verschwand mit einem schwedischen Musikerfreund Niklas Frisk von der Band Atomic Swing nach Virginia, um mit ihrem Helden Mark Linkous von Sparklehorse ein Soloprojekt zu starten. 2001 erschien das bemerkenswerte Indie/Country/Pop Album A Camp, das von Linkous produziert wurde. Es klang eher wie Sparklehose als The Cardigans. Endlich hatte Nina eine Platte gemacht, mit der sie zufrieden war, und endlich hatte sie gezeigt, wo ihre Wurzeln wirklich waren. Es gab sogar eine Coverversion des Undergroundkultstars, Daniel Johnston, Walking the Cow auf dem Album. Sie färbte ihre Haare braun, tauschte ihre Glitzerköstüme gegen T-Shirt und Jeans aus, und atmete auf. Und das Album verkaufte sich nicht.

Als ich Nina Persson das letzte Mal, im Jahr 2001, begegnet bin, machte sie sich Sorgen darüber, dass Peter Svensson immer mehr die krasse Poprichtung anstreben wollte, während sie auf ihrem Sparklehorsetrip war. Sie hoffte, dass The Cardigans an dieser Gegensätzlichkeit nicht scheitern würden. Sie wusste selber nicht, was kommen würde. Gekommen ist das Cardigans Album Long gone before daylight: Eine optimale Mischung aus beiden Welten. Die Songs sind ruhig und organisch, warm und intim. Es ist ein reifes Popalbum, nichts für die Kids. Cardigans Songs reflektierten immer die Liebe und die Verzweiflung: Nun ruhen die Lieder auf einer festen, ursprünglichen Basis, damit wir Nina wirklich glauben können, was sie singt. Wie ein Engel klang sie schon immer. Nun klingt sie wie ein reifer Engel, dem ich persönlich auf jeden Fall alles verzeihen würde. Der Begriff kommerzieller Selbstmord ist schon relativ: Das Album befindet sich zwar in den Top 100 in diversen Ländern, aber nicht unter den Top 30. Es klingt, als ob Svennson und Persson sich durch ihre Gegensätzlichkeit ergänzt haben. Die Platte hört sich nach Tauziehen an, aber nach einem Tauziehen der Liebe.

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