Uwe Wesel war 1959 in die SPD eingetreten, nach dem Godesberger Programm, und dreimal rasselte er in die Mühle der Parteiausschlussverfahren. Beim dritten Mal, 1974, war es soweit: Er flog aus der Partei, weil er vor dem Kommunistischen Studentenverband gesprochen hatte - und die Zusammenarbeit mit Kommunisten war seit dem Unvereinbarkeitsbeschluss der SPD von 1970 ein Ausschlussgrund. Wer begnadeter Jurist ist und in den siebziger Jahren bei der SPD in Ungnade fiel, müsste heute eigentlich rot-grüner Minister, mindestens aber Justizsenator in Berlin sein. Uwe Wesel ist das nicht. Er ist - inzwischen emeritierter - Professor für Rechtsgeschichte und Zivilrecht, und das war er auch 1974, das war er seit 1968. Kurz nachdem Studenten beschlossen hatten, dass unter professo
ssoralen Talaren der Muff von tausend Jahren steckt, streifte Wesel genau einen solchen Talar über. Fortan konnte ihm eigentlich nicht mehr ganz wohl in seiner Haut sein, denn die einen warfen Wesel vor, er gehöre zum Establishment. Die anderen warfen zwar nicht vor, weil das nicht ihr Stil ist, aber sie nahmen dem jungen und immer älter werdenden Professor einfach übel. Jetzt sind die Vorwurfsvollen von einst selbst Establishment, ob sie nun Schröder, Fischer oder Schily heißen. Und Wesel? Nun, der hat ein Buch geschrieben über Die verspielte Revolution - 1968 und die Folgen.Das müsste spannend sein, denn Minister ist Wesel nicht geworden, aber er verschwand auch nicht in der Versenkung wie manch anderer Langhans jener Zeit. Der FU-Prof ist bekannt durch seine Kommentare zu den Prozessen gegen Honecker Co. und durch seine juristischen Bücher, die so ganz und gar unprofessoral daher kommen: Juristische Weltkunde oder Fast alles was Recht ist haben manchen Laien (und vielen Fachleuten) den Weg durch den Paragraphendschungel gewiesen. Sein großes Oeuvre ist die Geschichte des Rechts, ein ambitionierter Ritt durch zwei Millionen Jahre, in denen der Mensch von der Gesprächstherapie bei den Jägern und Sammlern über die Marktgerichtsbarkeit der Ädilen im alten Rom und über den mittelalterlichen Dorfrichter beim Bundesverfassungsgericht ankam. In seinen Büchern versteht es Wesel, Anekdoten einzuflechten, ohne den Faden zu verlieren. Dass sein Zugriff auf Geschichten und Geschichtchen subjektiv ist, zeichnet ihn aus als einen der wenigen seiner Zunft, die mutig genug sind, Originalität und Anschaulichkeit zu verbinden. Noch charakteristischer ist sein Sprachstil. Den muss man mögen. Wer Wesel wegen seiner kurzen, elliptischen Sätze bewundert, wegen seines schnoddrigen Tonfalls, seiner Ironie - der wird sein Buch über 68 lieben. Denn, dem Thema angemessen, hat Wesel ein freies, manchmal freches Buch geschrieben, in dem die Kommunisten als ein "Haufen von ziemlich scharfen Gurken" bezeichnet werden und der Autor Wesel ab und an denkt: "Ach du meine Nase!" Ach du meine Güte, denkt da der Rezensent, versucht da etwa einer der notorisch nervigen Alt-68er wenigstens sprachlich noch den Geist der Kommune 1 ins Pensionsalter zu retten? Nein, Wesel ist kein Alt-68er mit Rechtfertigungskomplex. Aber schwer getan hat er sich mit diesem Opus doch, denn der Spezialist für Römisches Recht hat sich auf unbekanntes Terrain begeben: In die eigene Vergangenheit. Ein Professor an der FU in jenen Jahren bewegte sich im Epi-Zentrum der Revolte. Und Wesel, der von 1969 bis 1973 das Amt des Vizepräsidenten der FU übernahm, spielte eine Schlüsselrolle als Vermittler zwischen konservativen Professoren, überforderter Stadtspitze und revoltierenden Studenten. Über Wesels Freud und Leid mit den Akteuren erfährt man eine Menge, trotzdem ist sein Buch keine Autobiographie geworden. Vielleicht wird man der ungewöhnlichen Mischung aus Ereignisgeschichte, Anekdoten und Wertungen am ehesten gerecht, wenn man von einem subjektiven Bericht spricht.1968 beginnt 1965, und Freitag-Lesern wird es einen wohligen Schauer versetzen, dass Wesel just die Affären an der FU Berlin um zwei wichtige Autoren dieses Blattes zu den Ausgangspunkten der 68er-Bewegung macht: Da war zum einen das Hausverbot für Erich Kuby, zum anderen die Entlassung von Ekkehart Krippendorff als Assistent. Beide hatten sich kritisch zur FU-Leitung geäußert, und in beiden Fällen protestierten die Studierenden heftig gegen die Entscheidungen des Rektors. Mit Kuby und Krippendorff startet Wesels Reise über alle Stationen, alle wichtigen Namen, alle einprägsamen Anekdoten: Da ist von den Scherzen die Rede, mit denen Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann für Heiterkeit im verbissenen Deutschland sorgten, von der Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Ex-Nazi Kiesinger versetze, vom Schah-Besuch, natürlich, und vom Tod des Benno Ohnesorg. Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl haben ihre Auftritte. Vietnam, Prager Frühling und der Pariser Mai. Viele Zeilen verwendet Wesel darauf, die Strukturen an den Universitäten zu schildern und die zögerlichen Reformen. Noch lieber widmet er sich den juristischen Begleiterscheinungen der Zeit, den Justizreformen und den repressiven Gesetzen, den großen Prozessen gegen 68er und den geplatzten Prozessen gegen Reaktionäre. In diesen Zeilen ist der Rechtshistoriker in seinem Element, und er erlaubt sich, kräftige Wertungen und Warnungen, ganz unwissenschaftlich, was Wesel so sympathisch macht. Er bleibt nicht Anfang 1969 stehen, als kleine Erfolge für die Studierenden greifbar wurden und die Revolte zu zerfasern begann. Wesels Zeittafeln, die er einigen Kapiteln voran gestellt hat, enden erst 1998: "Rotgrüne Bundesregierung". Bei Wesel folgt nämlich eins aufs andere, die Stadtguerilla auf die APO, die RAF auf die Stadtguerilla. Frankfurter Häuserkampf, § 218, Stammheim, Bürgerinitiativen, Mescalero, K-Gruppen, Russell-Tribunal (an dem Wesel 1978/79 selbst mitwirkte), Wyhl, Kalkar, Gorleben und Mutlangen - das alles ist für Wesel durch einen buchstäblich rot-grünen Faden verbunden, der sich aus dem großen Knäuel 1968 bis heute fortspinnt. Ein Kreis hat sich geschlossen, als rot-grün 30 Jahre nach der "Schlacht am Tegeler Weg" in Amt und Würden kam. Abgeschlossen ist die Sache für Wesel damit noch lange nicht, und das nicht nur, weil noch immer die Vorkommnisse von einst die Gemüter erhitzen, und sei es nur, dass sich 2001 der Sohn eines von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts bei Sabine Christiansen über den Ex-Kommunisten Jürgen Trittin beschwert. Nicht abgeschlossen ist die doppeldeutig "verspielte Revolution" für Wesel deshalb, weil er "ein Stelldichein von Fragen und Fragezeichen" sieht.Und Antworten, Herr Professor? Die wichtigste Frage, nämlich die, was man vom Komplex 68 halten soll, beantwortet Uwe Wesel nach über 300 Seiten reichlich läppisch: "Und was hat sie gebracht? Viele Tote. Das muss ja auch mal gesagt werden. (...) Sonst ist alles umstritten im Großen und Ganzen." Zu einem eindeutigen Urteil über die Fragen Revolte oder Revolution oder Bewegung 1968 mag sich Wesel nicht durchringen. Viele konkrete Errungenschaften - Kinderläden, Hochschulreform, Emanzipation und Wohngemeinschaften - findet Wesel toll, doch irgendwie schmeckt ihm die ganze Geschichte trotzdem nicht. Er trauert einer verspielten Chance nach, die Demokratie umfassend zu reformieren oder gar revoltieren - wie auch immer. Die APO war ein "Luxusprodukt des Wirtschaftswunders", und wie die meisten Luxusprodukte machte die APO Spaß und sorgte für viele Annehmlichkeiten. Überflüssig war sie trotzdem, aber das gesteht man ungern. So scheint Uwe Wesel zu denken, und ob gerade er, der er sich so sehr am Niedergang der APO weidet, froh gewesen wäre, wenn die APO erfolgreicher, radikaler vorgegangen wäre, scheint zweifelhaft.Eine zweite Frage, die subjektive, hat der Leser zu beantworten: Was ist nun von diesem Uwe Wesel zu halten? Stand er auf der richtigen Seite, damals? Oder auf der falschen? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort, aber die Frage erklärt, warum dieses Buch so sperrig ist: Der damals 35-Jährige lebte in einer schmuddeligen WG, aus der er erst auszog, als eine Wanze durchs Badezimmer kroch. Abends feierte er in der Revoluzzer-Kneipe "Herta" in Berlin-Charlottenburg und warf Geld in die Jukebox, um die "Internationale" zu hören. Tagsüber war Uwe Wesel ein Professor, der versuchte, das Eigentumsrecht zu erklären, wenn nicht gerade gestreikt wurde, und im Kollegenkreis diskutierte er, wie man der revoltierenden Studierenden Herr werden könnte. Zwischen allen Stühlen saß dieser Uwe Wesel damals: Zu intelligent für den naiven Glauben an eine Revolution. Zu intelligent für den naiven Glauben an die überkommene Ordnung. So einer macht sich nur Feinde und ist trotzdem viel zu fein, seinen subjektiven Bericht über jene Jahre als wilde Abrechnung zu formulieren. So einer wird eben nicht Justizsenator. Dafür wäre er vielleicht auch viel zu intelligent.Uwe Wesel: Die verspielte Revolution - 1968 und die Folgen. 350 Seiten, Blessing Verlag, München 2002, 22,90 EURUwe Wesel: Geschichte des Rechts - Von den Frühformen bis zum Vertrag von Maastricht. 620 S., Verlag C. H. Beck, München 2001, 35,- EUR
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